Der Sog der Düsternis
Der Königsmörder und das Monster sitzen sich in einer Gefängniszelle im Turm gegenüber. Das Monster, ein Eisblut, so werden in dem Reich Elidaen die Vampire genannt, hat den Auftrag, sich die Geschichte des Letzten der Silberwächter erzählen zu lassen. Für die unsterbliche Herrscherin über Wölfe und Menschen. Chevalier Gabriel de León ist völlig übermüdet, hungrig, umzingelt und verschwitzt vom Entzug. Denn als Sohn eines Vampirs und einer menschlichen Frau braucht er seine tägliche Dosis Blut oder Sanctum. Die heilige Bruderschaft der Silberwächter war die einzige, die den vier großen Vampirfamilien entgegentreten konnte. Zum Erzählen mit Wein und Droge animiert, berichtet er seinen Weg von einem lebenslustigen jungen Burschen zu einem verbitterten, grantigen Mann. Acht Jahre war er alt, als ein grauschwarzer Schleier die Sonne verdunkelte und der Tagestod begann. Seitdem können die Vampire auch am Tage ihre Schreckensherrschaft über die Länder ausbreiten.
Ein bibliophiles Prachtexemplar
Dieses Buch auszupacken und versteckt unter Packpapier einen vorsichtigen Blick auf den Schutzumschlag zu erhaschen, verursacht schon den ersten wohligen Schauder. Es ist ein Kunstwerk innen sowohl als außen und wird auch in 100 Jahren noch ehrfürchtig in die Hand genommen werden. Das Buch selbst ziert eine aufwändige silberfarbene Prägung mit dem Wappen der De Leons. Der Innentitel zeigt die detailliert gezeichnete Karte des Reiches Elidaen in seiner neuen Ausdehnung und die Wappen der großen Familien. Innen finden sich unzählige Zeichnungen in der Art von Tarotkarten, die Charaktere oder Situationen zeigen. Einzig ein Lesebändchen fehlt dem Bibliophilen zur Vollständigkeit. Bei 1024 Seiten wäre es durchaus angebracht gewesen. Die paar Cent dafür extra hätte der Leser sicher gerne gezahlt, ist doch das Buch für diese Qualität mit einem Preis von 26 Euro durchaus preiswert.
Aus den größten Schrecken entstehen die größten Helden.“
S. 126
Dabei wurde ich durch einen meiner Lieblingssprecher, Robert Frank, auf „Das Reich der Vampire“ aufmerksam. Grundsätzlich mag ich seine humorvolle Art, mag ich, wie er Texten Leichtigkeit gibt und grundsätzlich seine leicht rauchige Stimme. Sie passt ausgezeichnet auch zu diesem Hörbuch. Er vermag es, der allgegenwärtigen Bedrohung Gestalt im Kopf zu geben. Unheimlich, düster, gewalttätig. Als das Buch kam, habe ich immer abwechselnd gehört und gelesen und nachgelesen, ohne dass mir je langweilig wurde.
Jay Kristoff verfügt über eine einzigartige Erzählstimme. Sie ist brutal, respektlos und rutscht des Öfteren in die Gossensprache. „Fragt mich nicht, ob Gott existiert, fragt mich lieber, wieso er so ein Arschloch ist“, lautet der erste Satz des gewaltigen Romans. An dieser Stelle gebührt der Übersetzerin Kirsten Borchardt ein großes Lob. Mit Einfühlungsvermögen und Sprachtalent hat sie das Werk aus dem australischen Englisch in die deutsche Sprache übersetzt. Auf der Seite von Tor online findet sich ein Interview, das sie mit Jay Kristoff geführt hat. In ihm erzählt er, dass die Dunkelheit unserer Welt in das Buch eingedrungen ist und viele weitere Dinge, die vor allem den zerrissenen Charakter von Gabriel De León beleuchten.
Bildgewaltig und episch
Scheinbar zufällig begegnet er zwei Schwesternovizinnen in der geheimen Abteilung der Bibliothek. Gabriel möchte herausfinden, zu welcher Blutlinie er wirklich gehört, denn ein Schwachblut ist er definitiv nicht. Die beiden jungen Mädchen sind der festen Überzeugung, dass sie hier die Lösung zur Überwindung des Tagestods finden. Bis zum Ende des Romans bleiben ihre Schicksale unlösbar miteinander verbunden. So sehr sich Gabriel anstrengt, das hassenswerte Ekel zu sein, widerspricht er sich mit seinen Handlungen und seiner Loyalität zu seinen Freunden und Schutzbefohlenen selbst.
Ein bisschen Schmerz hat noch niemandem geschadet.“
S. 684
Dieses Buch entwickelt einen unwiderstehlichen Sog, scheinbar unmöglich, sich für anstehende Tagesaufgaben oder nötigen Schlaf auszuklinken. In seiner Düsternis ist es großartig und voller Hoffnung und Liebe. Jay Kristoff feierte erste große Erfolge mit „Nevernight“, einem bildgewaltigen Epos über die Rache einer jungen Assassine. Wenn er seine Handlungen noch weiter auffächert, kann er sich bald in die Riege der ganz großen Fabulierer und Weltenschöpfer einreihen wie Tad Williams und Brandon Sanderson.
Eine absolute Gemeinheit ist natürlich, dass Gabriel De León die Geschichte nicht zu Ende erzählt hat und wir noch Monate warten müssen, bis Band 2 erscheint. Die australische Prachtausgabe hat er zumindest fotografisch bereits vorgestellt.
Amandara M. Schulzke
A Tale of Blood and Darkness, Band 1
Dark-Fantasy
Fischer Tor
Juni 2022
Buch, Hörbuch
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Illustrationen von Bon Orthwick
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Ein Gedanke zu „Das Reich der Vampire – Jay Kristoff“