Eroberer, Götter und Mysterien
Den Kristallpalast oder im Englischen Crystal Palace gab es wirklich. Er wurde 1851 zur Weltausstellung im Hydepark in London errichtet. Nach der Ausstellung zog er um, in den Stadtbezirk Lewisham. 1854 fand die Neueröffnung des Gebäudes statt und der Stadtteil erhielt später den Namen Crystal Palace. Als Monument der industriellen Revolution erfreute sich das Bauwerk allgemeiner Bewunderung, bis 1936 eine Explosion und ein Feuer es vollständig zerstörten.
Rund um dieses architektonische Meisterwerk aus Glas und Stahl ersann Oliver Plaschka mit zwei Studienfreunden Matthias Mösch und Alexander Flory eine Geschichte, die sich wie die viktorianische Steampunk-Romanversion von „Jäger des verlorenen Schatzes“ liest. Eine Schatzsuche in der ehemaligen Kolonie Birma erweckt eine Gottheit, die auf die Gelegenheit wartet, das Weltengefüge zu erschüttern. Im Jahr 1851 sind diesem Geheimnis die Freimaurerloge, der Geheimdienst der britischen Armee und die VOC (Vereenigde Oostindische Compagnie) auf der Spur.
Lord Bailey gehört zur Loge und weist sein Mündel Niobe an, aus Lord Sedwicks Gemach einen „Schatz“ zu stehlen. Doch Niobe findet nur den ermordeten Hausherren vor. Jemand kam ihr zuvor. Captain Royle arbeitet bei dem Geheimdienst „Sektion Cricket“ und erhält den Auftrag, das magische Artefakt sicherzustellen.
Royle und Niobe nutzen übernatürliche Talente, um Frans Ovenhart zu jagen. Ovenhard ist ein niederländischer Ingenieur, der von seinen obskuren Dienstherren ebenfalls die Nutzung spezieller Fähigkeiten lernte. Welches Unheil der gesuchte arkane Kristall anzurichten vermag, erahnen alle Beteiligten, als sie auf ein weiteres, spektakuläres Geheimnis stoßen.
„Je mehr ich ihn sehen kann, je mehr fühle ich ihn. Oh, sein Zorn über sein Auffliegen und seine Freude an der Flucht. Eine seltsame Melange, wie ich sie von Katzen kenne – zu verliebt in ihr Spiel, um es zu gewinnen, zu geschickt, um es zu verlieren.“ S. 112
Vielfältige Perspektiven
Die Geschichte in „Der Kristallpalast“ vereinigt zwei Handlungsebenen, jeweils aus mehreren Perspektiven erzählt. Die Ereignisse zur Zeit der Weltausstellung berichten die drei Protagonisten Niobe, Frans und Royle. Die 1827 von Major Samuel Blakewell angeführte Expedition erzählt dieser in den Tagebüchern von Arakan. Bisweilen rezitiert er den Niederländer Johan Vanderbilt, dessen Spuren von 1779 er folgte.
Diese gänzlich unterschiedlichen Plots eint ein sinisteres Geheimnis, das im Hintergrund lauert und für eine düstere Atmosphäre sorgt.
Samuel Blakewell berichtet von einem typischen Abenteuer kolonialer Eroberer, die die Schätze der Wildnis und Ureinwohner rauben. Die Reise entwickelt sich zu einem blutigen Horrortrip à la Lovecraft. Die Handlung rund um den Kristallpalast beginnt wie ein actionreicher Krimi und wandelt sich zu einer spektakulären Mystery-Story mit überraschenden Hintergründen und Wendepunkten. Wilde Verfolgungsjagden durch das viktorianische London, handfeste Auseinandersetzungen, Tricksereien und Verrat gibt es zur Genüge. Beinahe filmisch anmutend beschreiben die Autoren Schauplätze und Aktionen und halten den Spannungslevel hoch.
Ein Agent ihrer Majestät, ein Magier und ein exzentrischer Ingenieur
Mit den Protagonisten Niobe, Frans und Royle haben die Autoren Plaschka, Mösch und Flory interessante und schillernde Persönlichkeiten in ihr Abenteuer geschickt. Ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und individuellen Charakterzüge ergänzen sich perfekt und prägen die Geschichte. Niobe erzählt von ihrer Kindheit in Kalkutta und der Begegnung mit der Göttin Ananda. Dass Lord Bailey sie mit nach England nimmt und fördert, ist kein Zufall. Er braucht sie und so entwickelt sich zwischen ihnen eine spannende Beziehung auf Augenhöhe.
Frans ist ein undurchsichtiger Charakter, der seine Unsicherheit hinter einem selbstbewussten Gehabe verbirgt. Ein cleverer Filou als verlängerter Arm der geheimnisvollen und mächtigen ‚Heeren‘. Captain Royle bleibt als Soldat und Agent zunächst etwas blass, hat aber im Finale seine Momente. Für Samuel Blakewell, ein ähnlicher Typus wie Royle, bleibt die Rolle des tragischen Helden übrig.
Ein Buch für Leser mit Fantasie und Hirn
Oliver Plaschkas Bücher enden nie mit eindeutigen Lösungen und dies ist eine ihrer besonderen Qualitäten. „Der Kristallpalast“ macht da keine Ausnahme und lässt den Leser mit einer Fülle von Bildern zurück, die zum Träumen, Spekulieren, und Nachdenken anregen. Das Finale im Kristallpalast hätte dennoch ein wenig spektakulärer sein dürfen. Gefühlt endet es, bevor es richtig losgeht. Jedoch legte Oliver Plaschka in dieser Neuauflage des Ohneohren Verlag noch eine Kurzgeschichte obendrauf, die bestens als Epilog funktioniert und eine Brücke zu „Die Magier von Montparnasse“ schlägt.
Oliver Plaschkas bildhafter Stil ist stets ein Hochgenuss und in Matthias Mösch und Alexander Flory fand er Mitstreiter, die sein hohes Sprachniveau mitgingen. Im Nachwort klingt an, dass die meisten Textpassagen und die gesamte Überarbeitung von Oliver Plaschka stammen. „Der Kristallpalast“ liest sich wie ein typisches Plaschka Buch und wirkt überwiegend rund und aus einem Guss. Zu kritisieren ist allenfalls, dass die LeserIn nicht alle perspektivischen Wechsel intuitiv erfasst und einige Szenen ein wenig zu detailverliebt gestaltet und dadurch in die Länge gezogen wirken. Meckern auf höchstem Niveau.
Insgesamt ist „Der Kristallpalast“ ein wunderbar spannendes Buch, voller kleiner und großer Überraschungen, Rätsel und Remineszenzen. Mit seinen Geheimnissen und Bildern stimuliert die Geschichte Fantasie und Geist und verwöhnt dazu mit schöner Sprache und einer kurzweiligen Erzählweise.
Eva Bergschneider
Steampunk
ohneohren Verlag
August 2018
518
Funtastik-Faktor: 84