Steampunk meets Supernatural
Wir schreiben das Jahr 1917. Europa ist in unterschiedlichste Länder unterteilt und die alten Kolonien spielen machtpolitisch eine immer größere Rolle. Doch noch ist die selbsternannte Wiege der Zivilisation mit ihren Fabriken, Ingenieuren und Erfindern Garant für Reichtum und Machterhalt. Allerdings leidet die Bevölkerung, der eine strenge Geburtenkontrolle auferlegt wurde, unter Armut, Hunger und Verelendung. Die Waisenhäuser Europas sind voll von illegalen Kindern. Die wenigen Begüterten treffen sich auf ihren mondänen Anwesen, in Hotels und Casinos der Metropolen.
Wir lernen Robert Fuchs kennen, als es ihm wirtschaftlich nicht gut geht. Woher er das Geld für Essen, geschweige denn für die Miete der Souterrain-Wohnung in Brasston hernehmen soll, weiß er beim besten Willen nicht. Zumal er auch noch einen Jungen aus dem Waisenhaus zu sich genommen hat. Sein großes Herz und die Begeisterung für den fixen Verstand Emils sorgen dafür, dass die monetäre Schieflage sich zusehends zu einer Notlage ausweitet. Den ständig hungrigen Jungen kann er doch nicht einfach wieder auf die Straße setzen.
Da kommt das Angebot in einer Kleinanzeige der Tageszeitung gerade recht. Ein Industrieller, dessen Sohn ermordet wurde, sucht einen Privatermittler. Für die Aufklärung gibt es nicht nur ein fürstliches Salair, auch Kost und Logis im hochherrschaftlichen Haus an der Küste werden angeboten. Kaum angekommen und verköstigt, stoßen unsere zwei Spürnasen auf etwas, das offensichtlich nicht von dieser Welt ist.
Ermittlungen um einen Familienfluch und ein Medium, auf einem Geisterschiff und in einem Zeppelin
Der nächste Fall führt unsere beiden Ermittler in Sachen Supranaturalismus gen Westen. Eigentlich wollte Fuchs zusammen mit Emil nur einmal ein wenig ausspannen und Urlaub machen. Doch dann kommt er einem mysteriösen Verschwinden auf die Spur. Ein genialer Pianist, der möglicherweise eine aufsehenerregende Erfindung gemacht hat, ist dem Brand in seinem Haus zum Opfer gefallen. Oder soll es vielleicht nur so aussehen?
Ein altes, einst angesehenes Hotel ist der Schauplatz des nächsten Falls. Früher war es für seine Zeitlosigkeit berühmt. Hier konnten Menschen, die von ihrem Alltag geplagt waren, endlich einmal den Zeitdruck vergessen. Und ausgerechnet hier versammelt ein reicher Unternehmer die berühmtesten Privatdetektive des Kontinents. Sie sollen dem seit Jahrzehnten verschwundenen Begründer des Hotels im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spur kommen.
Erben ist immer eine unschöne Angelegenheit. Denn meistens gibt es unter den Hinterbliebenen Streit, wer überhaupt und wie viel und bekommt. Dass aber ein Privatermittler für supranaturalistische Fälle hinzugezogen wird, ist eher ungewöhnlich. Es geht um viel Geld, um Macht und darum, einen alten Familienfluch aufzuklären – treibt doch ein Untoter sein Unwesen.
Vorhersagen, Orakel, der Blick in die Kristallkugel. Alles was darauf hinausläuft, dass man weiß oder zumindest ahnt, was einem in der Zukunft bevorsteht, begegnet unseren Ermittler-Duo im nächsten Fall. Ein Wachs- und Kerzen-Fabrikant wird erpresst, nachdem er vorher bei einem Medium zu Gast war. Als Fuchs selbst das Orakel besucht, erhält auch er eine Weissagung, die ihn beunruhigt.
Das kleine Küstenstädtchen Salzbucht liegt, der Name weist schon darauf hin, an der rauen Küste. Ein Gespensterschiff taucht immer wieder im Nebel auf. Ein Mysterium, dem Robert Fuchs tief unter der Wasseroberfläche auf den Grund geht.
Zuletzt schwingen sich unsere Detektive in die Lüfte. Die Jungfernfahrt eines Zeppelin-Reiseschiffs nach Amerika steht an und unsere Ermittler sind mit an Bord. Anschläge an Board und ein Werwolf sorgen dafür, dass es nicht bei einer geruhsamen Fahrt bleibt.
Was ist dies für ein Episodenroman, der vor respektive hinter mir liegt?
Angesiedelt ist er in einer Zeit, in der es noch deutlich ruhiger und nicht so hektisch zuging, wie heute. In der aber die Menschen gleichzeitig in viel größerem Ausmaße von wirtschaftlicher Not bedroht waren. In einer solchen Epoche begegnen wir einem Detektiv und seinem Gehilfen. Natürlich kommen uns da sofort Sherlock Holmes und Dr. Watson in den Sinn, doch Robert Fuchs und Emil sind ein anderes Kaliber. Denn sie arbeiten nicht so streng deduktisch, wie ihre Kollegen aus der Baker Street 221b. Ihre Fälle befinden sich zwar allesamt an oder jenseits der Grenze zum Übernatürlichen. Trotzdem wirken die beiden als Persönlichkeiten irgendwie griffiger und bodenständiger.
Dass Fuchs sein Herz auf dem rechten Fleck hat, sehen wir gleich zu Beginn daran, dass er trotz finanziell angespannter Lage einen Waisenjungen zu sich genommen hat. Und diesen in seine Ermittlungen immer einbezieht. Emil ist weit mehr als ein simpler Stichwortgeber. Vielmehr ein Lehrling und Partner zugleich, der auch eigene Ideen mit einbringt.
Die Fälle selbst hat der Autor Lars Hannig durchgängig interessant aufgezogen. Sie fügen sich gut in die dem Steampunk nachempfundene Zeit ein und bringen Unruhe an die zumeist mondänen Orte der Handlung. Die Rätsel werden schlüssig gelöst, trotzdem unsere Detektive immer wieder auf rational nicht zu erklärende Phänomene stoßen.
Stilistisch lesen sich die Novellen angenehm. Die Handlungsorte sind abwechslungsreich und ausreichend detailliert beschrieben, ohne ins Klischeehafte abzugleiten. Dazu hätte ich mir gewünscht, dass der Autor auf die Seelenverfassung seiner Figuren noch ein bisschen näher eingegangen wäre.
Insgesamt weckt dieser Novellen-Band „Die phantastischen Fälle des Robert Fuchs“ Appetit auf mehr. Auf mehr Geschichten aus der Welt Anfang des 20. Jahrhunderts in einem anderen Europa, als wir es aus den Geschichtsbüchern kennen. Auf mehr spannenden Lesestoff über Geister, über skurrile Erfindungen und nicht zuletzt über Robert Fuchs und seinen jungen, vielversprechenden Partner Emil.
Carsten Kuhr
Steampunk
BoD selfpublishing
September 2020
352
Lars Hannig
83