Die optimierte Welt präsentiert ihren Gott
Die BEU (Bundesrepublik Europa) schreibt das Jahr 2057. Fünf Jahre sind vergangen, seit Samson Freitag zuerst von einem Vorzeigebürger zum kriminellen Revolutionär abstieg, und schließlich als Roboter an die Spitze der BEU-Regierung platziert wurde. „Die Unvollkommenen“ erzählt größtenteils die Geschichte von Paula Richter, Lila genannt. Sie rekrutierte Samson für ihre Widerstandsbewegung die Revolutionsbrigade. Doch die Gruppe flog auf. Samsons Geist transferierten sie in einen Basileus (menschenähnlicher Android) und Lila steckten sie in die Verwahrung. Nach fünf Jahren Bewusstlosigkeit erwacht sie in der Villa Baltic in Kühlungsborn, einem hübschen Badeort an der Ostsee.
Als Hochverräterin soll sie den Rest ihres Lebens in diesem ‚Internat‘ verbringen, einem leidlich bequemen Gefängnis. Bei guter Führung, versteht sich. Aufsässiges Verhalten oder gar ein Fluchtversuch bestrafen sie mit weiteren Jahren Verwahrung.
Eine Tätlichkeit hat ein weiteres halbes Jahr gestohlener Lebenszeit zur Folge. Wieder ins Leben der Villa Baltic zurückgeholt, möchte Lila nur noch eins: fliehen. In ihrem Mitgefangenen Eoin Kophler findet sie einen Mitstreiter und gemeinsam gelingt überraschenderweise die Flucht im Tretboot über die Ostsee. Sie landen jedoch nicht, wie geplant, in Russland, sondern in Hornstein bei München. Wartet dort ein freies Leben auf sie? Oder eher die erneute Instrumentalisierung durch das System? Oder durch andere Interessenvertreter?
Die Optimalwohlökonomie entwickelt sich weiter
Was fehlte dem System der Optimalwohlökonomie noch, damit die Menschen darin wirklich glücklich sind? Na klar, eine Religion. Was liegt näher, als das sich Samson Freitag selbst zum Gott ernennt? Zum Herrscher von Ewigkeit zu Ewigkeit, der die Menschen ins Reine Land führt. Des Weiteren entwickelte sich die totale Überwachung weiter, wurde noch lückenloser. Durch Integrations- und Emotionschips im Gehirn ist nicht nur eine beinahe 100 prozentige Kontrolle jedes Menschen gewährleistet, es wird zudem jegliche potenzielle Unzufriedenheit im Keim erstickt. Jeder Mensch kann jederzeit sein Glückslevel wählen, ohne negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Die BEU ist die perfekte Lebenswelt, in der jeder an seinem Platz glücklich ist.
Ist dieses System schlimm?
Die große Stärke dieses Romans liegt darin, dass die vorgestellte Welt zu schön ist, um wahr zu sein, jedoch in nicht allzu ferner Zukunft wahr sein könnte. Selbst die Gefängnisse sind ein Ort zum Wohlfühlen: an Urlaubsorten, mit scheinbar unbegrenztem Bildungs- und Freizeitangeboten. Nicht zuletzt in kulinarischer Hinsicht gleichen diese Internate einem Schlaraffenland. Was ist also schlimm an einem System mit optimaler Versorgung mit Glückmachern aller Art und einem vergleichsweise humanem Umgang mit jenen, denen es einfach nicht recht zu machen ist? Tauschen wir unsere Freiheit nicht gern für ein solches Paradies ein? Ein Paradies, das uns seine Glückseligkeit sogar über den Tod hinaus verspricht? Anstatt in Huxleys „Schöner neuer Welt“ befindet sich die Lebenswelt von Lila, Eoin und Anna jetzt in „Die Truman Show“. In einer komplett gescripteten, heilen Welt, die alles Üble außen vor hält.
Vom Widerstand (zu) wenig Neues
Es ist schwer vorstellbar, dass es in dieser perfekten Welt eine Widerstandsbewegung gibt. Und genau hier liegt eine Schwäche des Romans. Die Theresa Hannig etabliert zwar gleich zwei Widerstandsgruppen, die an Lila herantreten. Allerdings treten sie kaum in Aktion und sind deshalb nicht wirklich greifbar. Innerhalb der perfekten Vorortwelt verändern sich Lila und Eoin. Sie sind hin und hergerissen, ob sie weiter gegen das System kämpfen, oder sich seinen Vorzügen hingeben wollen. Das erschwert manchmal den Zugang zu den Protagonisten, macht sie aber auch interessant. Man stellt sich selbst die Frage, wie man wohl an Lilas Stelle handeln würde. Wenigstens Anna Freitag und ihr Homunkulus, ein veralteter Roboter mit menschlichen Erinnerungen, retten den Widerstandsaspekt. Nicht nur deswegen gehören sie zu den interessantesten Figuren in „Die Unvollkommenen“.
Zweigeteilt
Der Anfang des Romans „Die Unvollkommenen“ versprach die Geschichte einer Auflehnung gegen das System der Optimalwohlökonomie. Lilas Aufenthalt im Internat und Ausbruch war spannend und mysteriös zugleich. Es stellte sich die Frage, was faul an dieser Allianz mit Eoin Kophler sein könnte und wohin sie führt. Der zweite Teil des Romans verliert den roten Faden der Handlung ein wenig. Die Protagonisten sind zu sehr damit beschäftigt, die Art und Weise und den Sinn eines Widerstands zu ergründen. Daraus entwickeln sich tiefgreifende, fast schon philosophisch anmutende Gespräche. Darin geht es um das Menschsein und Rechte für KIs, um ein Leben nach dem Tod oder was man unter Glück und Freiheit versteht. Leider drängen sie das sonstige Geschehen in den Hintergrund, sodass dieser Teil des Romans recht handlungsarm wirkt. In den letzten Kapiteln nimmt die Handlung wieder Fahrt auf und führt zu einem überraschendem, etwas abrupten Ende.
Quo vadis?
Der Roman „Die Unvollkommenen“ ist eine Fortsetzung und Weiterentwicklung von „Die Optimierer“, lässt sich allerdings auch unabhängig lesen. Es gibt genügend Verweise auf Samsons Werdegang und die Entwicklung des Überwachungsstaats. Der Reiz der Geschichte liegt darin, dass diese Gesellschafts- und Staatsform zwar eine in der Zukunft spielende Fiktion darstellt, die Ansätze dafür aber bereits in unserer Gegenwart vorhanden sind. Wir entwickeln bereits KIs für Schlüsselfunktionen in unserem Leben. Die möglichen Konsequenzen, die eine uns möglicherweise überlegene Intelligenz mit sich bringen wird, berücksichtigen wir allerdings kaum. Wir lassen uns bereits jetzt freiwillig von Konzernen und Staaten überwachen. Wir hinterfragen zu wenig, was uns die schier unendliche Flut an Informationsmöglichkeiten vorsetzt. Wir rennen sehenden Auges in die ökologische Katastrophe und hoffen, die Technik werde uns schon retten. Romane wie „Die Optimierer“ und „Die Unvollkommenen“ zeigen eindrucksvoll, wohin dieser Weg führen könnte. Und lassen uns darüber nachdenken, ob wir eine solche Zukunft wollen.
Eva Bergschneider
Die Optimierer, Band 2
Science-Fiction
Bastei Lübbe
Juni 2019
400
Funtastik-Faktor: 73