Die Metaphysik der Seele als Abenteuerroman
Eine Figur erwacht. Ohne Erinnerungen an sich selbst, an dieses bedrohliche Märchenschloss oder an den See mit dem schwarzen nebligen Ungeheuer und den dunklen Wald mit Fabelwesen und Märchengestalten drumherum. Sie weiß nur, sie muss weg von hier, fliehen! Dabei ist sie fest eingebunden in die streng hierarchischen und überwachten Strukturen und Abläufe der Märchenwelt.
Das Ungeheuer im See verschlingt alle, derer es habhaft werden kann. Das einzige, was hilft, ist Licht, viel Licht. Die Figur arbeitet in der Lichtwerkstatt, um gemeinsam mit ihren Mitstreitern Aron und Nora eine überdimensionale Glühbirne zu bauen, die See und Burg erhellt.
Freund im Wald wird ein Schneemann, der ursprünglich der wissende Waldgeist war und von der Hexe und ihrem Drachen verzaubert wurde. Auf der Suche nach einem Ausgang aus dem Wald und diesem Albtraum gelangt der Ich-Erzähler zu einem Turm mit einem Kuriositätenkabinett. Er findet das wandernde Häuschen der Hexe und in dessen Ofen einen verkohlten Leichnam. Die Figur stromert durch das sich stets wandelnde Schloss, findet einen Schlüssel zum Öffnen von Geheimgängen und erlebt Seltsames in der Bibliothek. Als die übergroße Glühbirne während der Produktion zersplittert, scheint alles verloren.
„Der Schneemann seufzte und hustete wieder Schneeflocken aus seinem traurigen Mund.“ [S. 50]
Das ist kein durchschnittlicher Fantasyroman..
..in dem eine tragische Gestalt die Welt oder zumindest ihre eigene Welt retten muss. Bei allen Bedrohungen, die ihr begegnen, sind die in der Märchenwelt, in dem der erste Teil „Amnesie“ spielt, noch die harmlosesten.
Zimmermann widmet seinen Roman Archimedes von Syrakus, der die Formel zur Berechnung des Kugelvolumens entdeckte. Es ist das Buch der Gleichnisse, inspiriert von geometrischen Formen, mathematischen Formeln und des binären Zahlencodes. Sie dienen dazu, dass sich eine verlorene Seele wiederfinden kann, wenn sie es denn will. Im zweiten Teil „Monotonie“ erfolgt die Entzauberung in einer völlig entgegengesetzten Welt.
Der Autor hat komplexe Verbindungen, Situationen und Räume in einer einfachen, klaren bildhaften Sprache ausgedrückt. Er spielt mit Wörtern und Begriffen. Ab und zu gibt es ein für Laien unverständliches Fachwort, das sich aus dem Kontext erschließt oder nachgeschaut werden muss. „Kryonium“ zeigt sich als ganzheitliches Werk, in dem Musik, Literatur, Mathematik, Natur, Psychologie und die moderne Arbeitswelt zusammentreffen und ein Ganzes bilden. Der philosophisch-theoretische Anspruch versteckt sich in den tausenden von Kleinigkeiten, die in ihrer Fülle nur staunen lassen.
„Vieles hatte sich als anders entpuppt, als es zu sein schien, und ist nun doch wieder so, wie es zu Beginn den Anschein gemacht hatte.“ [S. 201]
Für den Leser wird das Konzept leichter zu durchschauen, wenn er vor der Lektüre weiß, welche Ausbildung Zimmermann genossen hat. Der Schweizer studierte musikalische Komposition, Kunst & Vermittlung, Game Design, Art Education und Pädagogik. Von alldem finden sich Bruchstücke in seinem Debütroman, die er am Ende zusammenzusetzen trachtet. Das klingt kompliziert, ist es für den Leser jedoch nicht, weil der Autor Bilder in Sprache umsetzt.
Die Handlung schreitet wie bei einem Computerspiel – das übrigens den dritten Teil bildet – mit aufeinander aufbauenden Quests zügig voran. Action, Abenteuer, Jump’n Run, Schlüssel – immer wieder Schlüssel finden. Aus Ego- oder Fremdperspektive, Verbündete akquirieren, Feinde ausschalten, Rätsel lösen. All das dient dem Ziel, die eigenen Erinnerungen wieder zu finden, sich selbst zu erkennen und sich zu entscheiden. Was will ich wirklich? Auf diese Reise nimmt er den aufgeregten Leser mit.
Allgegenwärtig ist das Motiv der Schneekugel, das auch das Cover ziert, welches der Autor selbst gestaltet hat. Wer in einer Schneekugel lebt, kommt nur heraus, wenn sie zerschlagen wird oder das Wasser abgelassen wird.
Der Roman lässt sich in keine Genreschublade stecken.
Er ist ein Crossover aus Phantastik, Scifi und Gegenwartsliteratur. Er erinnert an die Stimmung in dem chinesischen SciFi-Bestseller „Die drei Sonnen“ von Liu Cixin, an die „Otherland-Saga“ von Tad Williams und ebenso an die Erlebniswelt in Karla Schmidts „Lügenvögel“.
Erschienen ist „Kryonium“ im Berliner Kulturverlag Kadmos, der 2019 den Deutschen Verlagspreis gewonnen hat. Der Berliner Kunstprofessor Stephan Günzel hat ein gehaltvolles Nachwort geschrieben, das die im Roman geöffneten Dimensionen verständlicher macht und einordnet.
Es empfiehlt sich, „Kryonium“, ein weiteres Mal zu lesen. Es setzt sich aus vielen wunderbaren Puzzleteilen zusammen, die ein Leser gewiss beim zweiten Mal vollständiger genießen kann.
Amandara M. Schulzke
Phantastik Plus
Kulturverlag Kadmos
Oktober 2019
324
Matthias A.K. Zimmermann
Funtastik-Faktor: 92
Hallo Eva,
hm, dass kommt einem perfekten Roman aber schon ziemlich nahe wenn man Deine Beurteilung zu Grunde legt…augenzwickern oder?
Über 90 …..
LG..Karin..