Lagune – Nnedi Okorafor

Sie sind gekommen um zu bleiben

Lagune - Nnedi Okorafor © Cross Cult
Lagune © Cross Cult

Der Schwertfisch, der vor Lagos/Nigeria in der Lagune lebt, bemerkt den Unterschied zuerst. Das sonst ölverseuchte Wasser ist auf einmal sauber und schmeckt süß und sauerstoffreich. Am Strand treffen drei Menschen ein: die Meeresbiologin Adaora, der Soldat Agu und der berühmte Rapper aus Ghana Anthony Dey Craze. Adaora wurde gerade von ihrem Ehemann Chris geschlagen, während Agu vor seinen Kameraden flieht. Er hat seinen Kommandeur daran gehindert, eine Frau zu vergewaltigen. Anthony braucht etwas Abstand von dem Rummel auf seinen Konzerten.

Das Meer erhebt sich über sie, droht sie zu verschlingen. Als es sie wieder hergibt, sind sie zu viert, eine weitere Frau ist an ihrer Seite. Sie ist eine Außerirdische und Adaora gibt ihr den Namen Ayodele. Danach gefragt, warum Ayodele und ihr Volk nach Nigeria kamen, antwortet sie schlicht:

»„Wir haben uns entschieden, hier zu leben.“ [..]“Der Stadt Lagos?“ fragte Anthony und kam heran. Ayodele sah ihn an und grinste. „Und im Wasser.“.[..]
„Die Orte gefielen uns.“ [..] „Wir können mit Eurem Volk zusammenarbeiten“ sagte Ayodele „Und das werden wir. Wir kommen“. [S. 61]«

Auch die Menschen in Lagos bemerken Unterschiede, sind allerdings nicht so begeistert, wie der Schwertfisch. Als Ayodele die Nachricht ihrer Ankunft verbreitet, bricht Chaos aus. Einige wollen sie kidnappen und zu Geld machen. Andere wollen sie auf dem Scheiterhaufen brennen sehen. Mit knapper Not entkommen die vier dem Mob und machen sich auf den Weg zum Präsidenten Nigerias. Währenddessen kommen Ayodeles Brüder und Schwestern an Land.

Kompakte Handlung – epische Geschichte

Nnedi Okorafors Geschichte um die Außerirdischen in Nigeria erklingt aus den Stimmen vieler Zeugen. Die Ereignisse um die Gruppe um Adaora und Ayodele stehen im Mittelpunkt und von dort aus strahlen viele kleine Handlungsfäden und Erzählungen. Das hört sich chaotisch an? Es ist eher ein ungewohnter, weil mehrschichtiger Storyaufbau. Nnedi Okorafor greift immer wieder den roten Faden der Handlung auf, verknüpft ihn mit anderen. Dann legt sie ihn ab, um weitere Fäden zu spinnen und später erneut zu verknüpfen. So erzählt sie eine recht kompakte Kernhandlung, die sich durch einen Kosmos von Geschichten zieht. Ein Kosmos, der vielerlei Facetten des Geschichtenerzählens abdeckt.

Es ist eine Geschichte über Lagos, die das wunderbare und lebendige dieser Metropole beschreibt, aber auch viele der realen Probleme spiegelt. Tiere erzählen sie, nicht nur der Schwertfisch, auch eine Fledermaus und eine Spinne. Einmalige phantastische Wesen berichten, wie der Knochensammler, eine Schlange aus heißem Teer. Wir werfen einen Blick auf die afrikanische Welt der Götter und Geister. Uns begegnen Außerirdische, die sich wandeln, sich anpassen und heilen. Vor allem aber lesen wir über Menschen. Agu, Anthony und Adaora sind Auserwählte. Sie haben, ähnlich wie die X-Men, übernatürliche Fähigkeiten. Viele weitere Charaktere spiegeln in ihrer überzeichneten Art die Gesellschaft Nigerias wider. Wie Vater Oke, der religiöse Fanatiker, der seine Gläubigen schröpft. Oder Moziz, Spezialist auf dem Gebiet des 419-Betrugs (die Abzockmasche mit den mitleiderregenden Briefen an potentielle Wohltäter aus aller Welt. 419 ist der entsprechende Paragraph im nigerianischen Strafgesetzbuch). Oder Jacob, der gern Frauenkleider trägt und zur „Schwarzen Verbindung“ gehört, einer LGBT Bewegung in Lagos. Oder der Präsident des Landes, Moslem und Marxist, ohnmächtig der Korruption ausgeliefert. Sie alle erzählen ein Stück dieser Geschichte und aus ihrem Leben.

Inhalt, Stil, Sprache – eine organische Einheit

So lebendig und authentisch wie die Geschichte, so sind auch die Sprache und der Stil der Autorin. Handlung und Schreibe ergänzen sich perfekt. Nnedi Okorafor erzählt immer unmittelbar im Geschehen, bleibt ganz nah an den Personen. Viele Dialoge und innere Monologe sorgen für Nähe zwischen dem Leser und jeder Figur. Auch bei Rückblicken in die Vergangenheit fühlt sich der Leser mittendrin Ein schönes Beispiel dafür ist Agus Kindheitserinnerung aus die Zeit, als sein Vater gerade verstorben war. Die Verwandtschaft väterlicherseits versuchte sein Zuhause zu stürmen, um der Mutter das Erbe streitig zu machen. Die Autorin verweist hier auf ein ernstes Problem der nigerianischen Witwen. Ihre Position im Familienclan des Ehemanns ist oft sehr schlecht, viele bleiben mittelos mit den Kindern zurück.
Durch Okorafors einfache, prägnante Formulierungen prägen sich die Schauplätze der Metropole Lagos und die Szenerie außerhalb der Stadt ein. Begriffe und Laute aus der Sprache der Volksgruppe der Igbo, Geräusche wie „Peng Peng Peng“ oder „Muum“, der Laut des verwandelten Schwertfischs, erzeugen eine cineastische Wahrnehmung. Schillernde Bilder spulen sich vor dem inneren Auge des Lesers ab. Nnedi Okorafor schreibt fragmentarisch und im Comic-Stil, aber alles andere, als simpel. Sie schmückt ihre kräftige Erzählstimme mit wunderbaren Bildern, mit Humor und mit intensiven Emotionen.

“Lagune“ von Nnedi Okorafor ist alles andere, als ein klassischer Science-Fiction Roman. Es ist ein moderner, gesellschaftskritischer, anti-rassistischer und feministischer Roman, mit den Mitteln und Elementen der Science-Fiction und des magischen Realismus ausgestaltet. „Lagune“ gehört zu den innovativsten und intensivsten Leseerlebnissen seit langer Zeit. Allein ein leichter Overload an Erzählern und das abrupte, recht offene Ende lässt mich ein paar Bewertungspünktchen abziehen.

Eva Bergschneider

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Lagune
Nnedi Okorafor (Übersetzung: Claudia Kern)
Science-Fiction
Cross Cult
Oktober 2016
410

Funtastik-Faktor: 88

2 Gedanken zu „Lagune – Nnedi Okorafor

  1. Hachje, liebe Eva. Du machst mir ein wenig ein schlechtes Gewissen, denn ich habe dieses tolle Buch noch immer nicht gelesen :-/ Es wartet hübsch signiert seit der Frankfurter Buchmesse hier auf mich. Ich glaube, ich werde es ebenfalls mögen.

    Liebe Grüße,
    Sandra

    1. Ich bin wirklich ganz sicher, dass Dir das Buch gefällt. Du wirst ja mit dem etwas comichaften Sprachstil keine Probleme haben. Und innerlich ist es einfach nur wunderbar. Aber mir geht es oft auch so. Frau möchte ein Buch so gerne lesen, aber andere drängeln sich vor. ;-)Ich habe von Nnedi Okorafor „Das Buch des Phönix“ hier liegen und komme hoffentlich bald zum lesen. Schönes Wochenende! Eva

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