Ein echter Marzi
„Alle Bücher träumen von Geschichten. Sie fürchten sich vor dem Vergessenwerden.“
Nicholas wacht mit diesem Gedanken auf seinem Hausboot in Camden Market auf und weiß, dass etwas anders ist als sonst. Sicherlich, als Student und Schotte in London, gleichzeitig Postbote und Aushilfsverkäufer in einem Plattenladen, hat er genug um die Ohren. Wenn ihn die Muse küsst, schreibt er und hat bereits ein Buch veröffentlicht: eine Novelle, in der er die Lebensgeschichte seiner Großmutter hat einfließen lassen.
Gerade hat er den Beginn vor etwas, das ein Roman werden könnte, niedergeschrieben. Doch dann entdeckt er an seinem Bett einen Schatten. Wie kommt der Unbekannte auf sein Boot und was will er hier? Warum und wie verschwindet er plötzlich und spurlos? Träumt Nicholas nur?
Am nächsten Tag sieht er den Unbekannten wieder und erhält eine Einladung. Eine Visitenkarte an seinem Fahrrad führt ihn zu einem Laden, der handgefertigte Schirme für Gentlemen veräußert.
Der Inhaber entpuppt sich als sein nächtlicher Besucher. Dieser offenbart ihm, dass es neben der Welt, die er Zeit seines Lebens kennt, oder vielmehr zu kennen glaubt, eine andere Welt gibt. Das Reich der Toten, die noch nicht vergessen wurden. Eine Welt, in der so genannte Flüsterer dafür bezahlt werden, Geister vor dem Vergessen zu bewahren. Sie flüstern Künstlern Inspirationen zu, um so deren Verblassen in der Parallelwelt zu verhindern.
In dieser Welt lernt Nicholas ein Mädchen kennen und verliebt sich in sie. Dass einer der Schatten seine Nachtmahre auf das junge Paar hetzt, dass er in der Welt der Lebenden einen Schriftsteller umbringen soll, um so für das Verblassen eines der mächtigsten Männer in der jenseitigen Welt zu sorgen, ist bei weitem nicht das Schlimmste was ihm zustößt …
Christoph Marzis Romane sind immer etwas Besonderes.
Sie zeichnen sich durch einen eigenen, märchenhaften Stil aus, der die Leser mit feinen Charakteren und stimmungsvollen Beschreibungen der Handlungsorte verzaubert. Lange haben wir vom Schöpfer der „Uralten Metropolen“ nichts mehr gehört. Jetzt ist, endlich bin ich geneigt zu sagen, wieder ein neuer Roman erschienen. In Nachwort berichtet der Autor davon, dass eine schwerer Schlaganfall mit Lähmungen den Schaffensprozess unterbrochen und verzögert hat. Umso schöner ist es, dass wir nicht nur Nachschub an Marzi´scher Erzählkunst bekommen, sondern auch, dass der Roman so richtig gut ist!
Marzi siedelt seine Handlung einmal mehr in seiner Lieblingsstadt London an. In und um Camden Town kennt er sich aus unzähligen Aufenthalten aus und er vermag uns von den besonderen Orten an den Kanälen, die London durchströmen, zu berichten. Und das macht er mit viel Liebe zur Stadt und deren Bewohnern. Man findet sich als Leser unwillkürlich auf ein Hausboot versetzt wieder, durchstreift die Gassen und den Markt mit seinem bunten Angebot, seinen kulinarischen Köstlichkeiten und dem umtriebigen Völkergemisch.
Auch die Darstellung der jenseitigen Welt der Verstorbenen fasziniert. Routiniert aber nie auf bekannte Art präsentiert Marzi seine einfühlsam geschilderte Liebesgeschichte mit dramatischen Elementen. Allerdings fällt auf, dass das Finale ein wenig abrupt kam. Dass einige wenige Handlungsstränge unbeendet blieben, was untypisch für den Autor ist. Möglicherweise konnte er aufgrund seiner Erkrankung das Manuskript nicht wie gewohnt fertigstellen.
Mehr davon!
Alles in Allem ist „Mitternacht“ ein fulminanter Serienbeginn mit einem sympathischen Filou und Träumer als Erzähler und einer malerisch-nebligen Kulisse mit furchteinflößenden Wesen außerhalb des Üblichen – ein echter Marzi eben. Hoffen wir, dass wir noch viel mehr von ihm lesen.
Band 1 der Mitternacht Serie
Fantasy
Piper Verlag
Juni 2019
314
Funtastik-Faktor: 80