Das 22. Jahrhundert – Zeitalter der Cyborg-Zombies?
Im 22. Jahrhundert ist die Staatenordnung auf der Erde abgeschafft, eine Weltenregierung verwaltet und kontrolliert bewohnte Gebiete und Sperrzonen. Die bewohnten Gebiete befinden sich überwiegend in Metropolen, die wie ein Prospekt für urbanes Leben im Einklang mit der Natur aussehen. Die Städte sind grün, denn jegliche Bepflanzung wird finanziell gefördert. Bei Nacht illuminieren Neonleuchten die Stadt. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ermöglicht ein menschenwürdiges Leben und jede BürgerIn hat die Chance, das zu tun, wozu sie sich berufen fühlt.
Drei der vier Protagonisten haben sich dennoch für eine Laufbahn beim Militär entschieden, aus ganz unterschiedlichen, persönlichen Gründen. Andra aus dem Volk der Yuma ist ebenfalls eine Soldatin, aber nicht beim Militär der Weltenregierung. Sie verteidigt ihren Stamm und ihr Dorf in Nordchina – bis beides vernichtet wird.
In den Sperrzonen leben Moja, aggressive Cyborg-Zombies, die auf den ersten Blick nur noch wenig mit Menschen gemein haben. Sie sind die Opfer des KAMI-Virus, der Menschen in stärkere, schnellere, intelligentere Supersoldaten verwandeln sollte. Das Experiment ging schief, der Virus ist hochansteckend und hat unerwünschte Nebenwirkungen. Nun sperren sie die Moja in Sperrzonen und ordnen von Zeit zu Zeit „Säuberungen“, also Massentötungen an.
Bei dem Vorfall in Nordchina dringen die Moja in die Überwachungszentrale ein. Der Student Luke rettet die Station, indem er einen Weg findet, die geöffneten Schleusentore wieder zu schließen. Sein Wohnpartner Flover gehört einer geheimen Spezialeinheit an, die KAMI Infizierte außerhalb der Sperrzonen tötet. In Nordchina liquidiert Flover jene in der Station, die der Virus erwischt.
Der technisch optimierte und gefeierte Supersoldat Okijen hat seinen Dienst quittiert. Doch Flover überredet ihn, in Nordchina noch einmal gegen die Moja zu kämpfen. An der Front beobachtet er Andra, die mit Pfeil und Bogen Mojas der dritten Generation erledigt. Solche, gegen die selbst hoch entwickelte Schusswaffen nichts ausrichten. Beide können nicht verhindern, dass Andras Familie getötet wird. Deshalb nimmt Okijen sie mit nach Ulan Bator, in eine neue Welt und in ein neues Leben. Und mit in brandgefährliche Abenteuer, die die neue Weltenordnung umkrempeln.
Vier für die Rettung der Menschheit
Fünf Erzähler berichten über die dramatischen Ereignisse in „Neon Birds, vier als personale Erzähler in der dritten Person und ein „Ich“-Erzähler. Okijen van Dire, Flover Nakamura, Luke Bible und Andra Yun erzählen abwechselnd aus ihrer Sicht, wie im Jahr 2101 das fragile Gleichgewicht zwischen den Lebensräumen der Menschen und den Sperrzonen kippt. Der KAMI Virus überträgt eine KI, die eine Evolution durchläuft und aus starken, gepanzerten und sensorisch überlegenden Cyborg-Zombies mehr macht. Was das ist, gehört zu den spannendsten Fragen der „Neon Birds“ Trilogie. Die Erzähler kämpfen nicht nur an der Front, sondern auch gegen innere Dämonen: Identitätsverlust, Depressionen, Kindheitstraumata und die Frage, was den Menschen ausmacht. Was ihn vom Technik-Monster unterscheidet und wo die Grenze verläuft.
Marie Grasshoff lässt uns tief in die Seelen ihrer Protagonisten schauen. Obwohl Flover und Okijen genau diese Rolle einnehmen, wirken sie an keiner Stelle wie abgebrühte, kalte Killer. Vielmehr sind die beiden fast schon zu sensibel und empathisch, um glaubwürdig Soldaten zu verkörpern. Aber gerade ihre Emotionalität sorgt dafür, dass wir uns mit ihnen identifizieren und mitfiebern. Wie wichtig der Blick über den Tellerrand einer vorgefassten Meinung ist, gehört zu den eindringlichen Botschaften, die die Geschichte vermittelt.
Andra ist die interessanteste Persönlichkeit, kommt aber leider nicht richtig zur Geltung. Okijen nimmt sie auf, um das Geheimnis ihrer tödlichen Pfeile zu ergründen, tut dies jedoch nicht. Ihr wichtigstes Talent ist ein anderes und das wird hoffentlich in den folgenden Romanen zum Tragen kommen. „Neon Birds“ spendiert Andra keine glaubwürdige Motivation, mit Okijen ins Herz der wichtigsten Kommandozentrale vorzudringen. Luke, der Geheimnisvolle, enthüllt erst am Ende sein Geheimnis und bleibt daher lange ungreifbar.
„Wenn Dein Herz schmerzt, hatte der Älteste einmal gesagt, ist das etwas Gutes. Schlechte Gefühle sind nichts Falsches. Dein Weinen gehört genau so zu dir, wie dein Lachen. Du solltest dankbar sein, dass du deine Erinnerungen hast, und dich nicht vor den schlechten verstecken.
Zeit für ein neues Verständnis der Welt
„Neon Birds“ konzentriert sich auf die spannenden Ereignisse, in die die Protagonisten hineingeraten. Was wir über die Welt im Jahr 2101 erfahren, beschränkt sich auf einige Umgebungsbeschreibungen und auf Dossiers aus Militärakten. Hier wird stichpunktartig erläutert, was es mit KAMI auf sich hat, welche militärischen Abteilungen es gibt, deren Ausstattung und eine kurze Abhandlung über Cyber-Trips, eine Teleportationstechnologie.
Dieser Fokus auf die unmittelbaren Ereignisse sorgt für Hochspannung auf jeder Seite. Auf den über 400 Seiten sind nur wenige Längen in der Geschichte zu beklagen. Allerdings fehlt eine Storyumgebung, ein Hintergrund zu dieser schillernden und zugleich bedrohlichen Welt. Es ist oft nicht nachvollziehbar, warum sich diese Welt so entwickelt hat. Teleportation, also „Beamen“ lässt sich nur schwer im nicht allzu fernen 22. Jahrhundert verorten. Wie und warum wurde es entwickelt? Was steckt hinter dem „Kalten Krieg“, der 2070 ausgefochten wurde? Wozu benötigte man diese genetisch aufgerüsteten Supersoldaten? Und warum weiß man einerseits, wie rasant KAMI und die Mojas evolutionieren, lässt aber wichtige Aspekte dazu völlig außer Acht?
Trotz dieser Unstimmigkeiten bietet „Neon Birds“ eine unfassbar spannende und ergreifende Lektüre und beschäftigt sich zudem mit wichtigen Zukunftsfragen. Wie verändern die sich abzeichnenden Folgen des Klimawandels unsere Welt? Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft weiter und wie der Mensch? Welche Chancen bieten diese Entwicklungen und welche Abgründe tun sich auf? Ich kann es kaum abwarten mehr darüber im zweiten Band „Cyber Trips“ zu lesen.
In der Danksagung schreibt Marie Grasshoff, dass „Supersoldaten kämpfen gegen Zombie-Cyborgs“ die ursprüngliche Storyidee war. Sie hat diese zu einer wunderbar menschlichen Geschichte irgendwo zwischen Utopie, Dystopie und Cyberpunk wachsen lassen. Sie selbst bezeichnet diesen Mix als Solarpunk. Die Bücher sind darüber hinaus ein ästhetischer Genuss. Neben dem schillernden Cover erfreuen wunderschöne Illustrationen von Mona Finden das Auge des Lesers.
Eva Bergschneider
Neon Birds - Band 1
Science-Fiction
Lübbe
November 2019
464
Funtastik-Faktor: 80