Besuch der jungen Dame: Ich bin’s, der Tod
Fatima wächst auf einer Farm in Wulugu im Norden Ghanas heran. Sie kämpft häufig gegen Malaria und hält sich gerne in der Natur auf. Ihr liebster Spielort ist ein Schibutterbaum nahe bei ihrem Zuhause. Dort lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und betrachtet die Sterne, die auf sie wie Wörter wirken. Einmal sieht sie einen Meteorschauer in dem sich ein glühendes Objekt bewegt, das grüne Samen auf sie und ihren Baum herabfallen lässt. Fatima verfügt danach über eine befremdliche Gabe: sie kann Leben nehmen. Und sie leuchtet grün, wie eine Fernbedienung für das TV-Gerät im Dunkeln. Die Novelle heißt deshalb Remote Control, was auch eine Bezeichnung für Fatima wird.
Infolge einer Katastrophe steht Fatima irgendwann allein da und weiß nicht einmal mehr ihren Namen. Fortan nennt sie sich Sankofa und streift mit einem Fuchs, den sie Movenpick nennt, durch das Land. Die meisten Menschen ängstigt ihre Gabe. Aber ein paar erleben diese als Gnade und warten darauf, dass Todesengel Sankofa bei ihnen vorbeischaut.
Trauma und Selbstfindung
Im ersten Durchgang lesen wir „Remote Control“ vielleicht als eine Geschichte über das Erwachsenwerden, den Tod, Trauer und Einsamkeit, über Fatimah und ihren Schibutterbaum. Und über eine Erkenntnis, die mit ziemlicher Zeitverzögerung als eine Art Vertreibung aus dem Paradies (der Kindheit) beginnt. Okorafor schreibt ihren Figuren komplexe Gefühle zu, durch die sie interessant werden und ihr Handeln verständlicher. Der Pfad der Protagonistin ist auch einer der schmerzhaften Selbstfindung. Ihre anfängliche Unschuld wird schrittweise ersetzt durch Erfahrungen im Überlebenskampf. Auf ihrem Weg erfährt Sankofa auch, dass sie alle Ressourcen, die für ihr Überleben wichtig sind, in sich trägt, sie diese nur aktivieren und nutzen muss.
Durch den Kontakt mit der außerirdischen Substanz und die Sichtbarkeit der Folgen wird das Mädchen eine Ausgestoßene, vor der die Menschen Angst haben. Sankofa lebt aber nicht völlig außerhalb der menschlichen Gemeinschaft.
In der nächsten Lesung zeigen sich stärker das Fremdartige und der erzählerische Reichtum, Stoff für weit mehr als eine Novelle.
Africanfuturism
Afrofuturismus, 1993 geprägt vom US-Kulturkritiker Mark Dery, ist ein Entwicklungszweig der technokulturell imprägnierten Science Fiction, der, gemessen in Publikationen und Interesse, eine recht hohe Wachstumsrate aufweist. Sein systematischer Ort ist die afrikanische Diaspora.
Nnedi Okorafor gefällt der Begriff Afrofuturismus nicht. Sie hat ihn anfangs verwendet, dann aber für sich persönlich ersetzt durch Africanfuturism. Hiermit beschreibt sie seitdem den Teil ihres Werkes, der Science Fiction ist, und in ihrem Blog beschäftigt sie sich damit auf lesenswerte Weise.
Die mit dem World Fantasy Award sowie Hugo und Nebula ausgezeichnete Autorin zählt mittlerweile zur ersten Liga der gegenwärtigen Science Fiction. Wie in ihren vier „Binti“-Geschichten, in „Who Fears Death“ und „The Book of Phoenix“, hinterfragt die in den USA geborene und lebende Autorin den nicht nur im Westen verwendeten Begriff der afrikanischen Kultur und differenziert ihn aus. Afrika ist für sie kein homogener Kulturraum, sondern höchst divers.
Anders als Binti, die in ihrer Eigenschaft als Harmonisiererin vereinend wirkt und auch Freundschaften schließt, ist Sankofa eine Protagonistin, von der Zerstörung ausgeht. Es scheint nicht so leicht wie bei „Binti“, eine Beziehung zur Hauptfigur aufzubauen, sie auf ihrem Weg begleiten zu wollen. Im Grunde ist Sankofa durch eine fremde Macht manipuliert, vielleicht auch kolonisiert worden. Wie Binti verlässt sie ihre Herkunftswelt, bewegt sich zwar nicht so weit räumlich fort, macht jedoch eine größere innere Wandlung durch.
Lernen aus der Vergangenheit, für eine bessere Zukunft
Ein wichtiger Baustein für das Verständnis der Geschichte dürfte der neue Name der Protagonistin sein. Die Akan, eine Gruppe sprachlich und kulturell verwandter Völker in Westafrika, vornehmlich Ghana und Elfenbeinküste, kennen den Sankofa genannten Vogel als ein Symbol dafür, dass die Erinnerung an die Vergangenheit, der Rückgriff auf Traditionen, Menschen helfen, die Zukunft zu erkennen.
Sankofa ist auf der Suche nach einer Erklärung für das, was mit ihr geschehen ist. Wie sie die Adoptivtochter des Todes werden konnte, ein Vorgang, in dem sie ihre Familie verloren hat. Sie durchstreift ein Land, das ein dissonantes Gebilde ist.
In „Remote Control“, wie auch in den „Binti“-Geschichten, gibt es die Begegnung mit dem Anderen im Inneren wie im Äußeren. Vielfältige Kollisionen sind beobachtbar. Tradition und Moderne treffen aufeinander, wie es die Theorie der Entwicklungspolitik nicht besser beschreiben könnte. Traditionelle Landwirtschaft in Verbindung mit bewaffneten Drohnen, Lehmhütten und Roboter, traditionelle Lebensweise und Konzerne, Magie und Hochtechnologie, die auch etwas von Magie an sich hat. Die Entwicklung Ghanas findet zwar statt, aber langsamer als die der Technologie, die mit der Industrienation USA assoziiert ist.
Fazit
Nnedi Okorafors neue Novelle, „Remote Control“, folgt einem Mädchen auf ihrem Weg durch eine Zukunftsvorstellung der Autorin von Ghana. Sie verbindet Science Fiction mit dem, was Okorafor „Africanfuturism“ nennt. Okorafor beschreibt einfallsreich und emotional das Wirken und Werden eines Todesengels in einer Geschichte düsterer Science Fiction mit Anleihen bei der Fantasy. Sankofas Suche geht nicht einher mit einem kohärenten Storyverlauf, sondern verbindet Fragmente, die ein kumulatives Narrativ ergeben.
DANKE an Gastredakteur Holger Wacker für die Rezension der englischsprachigen Originalausgabe
Science Fiction
Tordotcom
Januar 2021
160
Greg Ruth
81