Über Asien, Kolonialismus, technische Wunder und Magie
Fans von Steampunk-Literatur haben es nicht leicht, ihren favorisierten Lesestoff zu finden. Eine der wenigen guten Adressen für Steampunk ist der Art Skript Phantastik Verlag, der immer wieder Literatur dieses Genres anbietet. Insbesondere in Form von Anthologien. Der 2014 erschienenen „Steampunk Akte Deutschland“ folgte 2020 die „Steampunk Akte Asien“. Die Geschichten in der Anthologie eint, dass sie alle in Asien spielen. Sie drehen sich um durch Knochenmagie angetriebene technische Wunderwerke und berühren oft das Thema Kolonialismus.
Für die Autor:innen galt es also asiatische Kultur, eine Alternativhistorie und das magische Element der Knochenmagie zu einer unterhaltsamen Kurzgeschichte zu vereinen. Die Herausgeber ersonnen eine Rahmengeschichte um eine Geheimorganisation mit Namen „Nachtfalter“. Sie sind die Hüter jener Geheimnisse, von denen in den Akten berichtet wird. Ihnen droht die Entlarvung und die Archivarin bemüht sich verzweifelt darum, die Akten zu retten.
Steampunk im eigentlichen Wortsinn findet sich eher wenig in den Geschichten, die die Herausgebenden Grit Richter und Fabian Dombrowski für diese Akte ausgewählt haben. Das liegt am zeitlichen Rahmen, in dem sie sich bewegen: von 1000 vor Christus bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert. Auf den letzten Seiten der Anthologie findet man kurze Beschreibungen der berücksichtigten Epochen, sie reichen von Bonepunk bis Dieselpunk. Entsprechend vielfältig sind Geschehnisse und der jeweilige Mix aus Technik und Magie gestaltet. Gleiches gilt für die Schauplätze, die sich in verschiedenen Regionen Süd-Ost- und Zentralasiens befinden und somit die Chance bieten, unterschiedliche Kulturen Asiens einfließen zu lassen.
Akten A – L und Interludien
- Khakua – Werner Graf (Prolog)
- Abbitte – Annika Sylvia Weber (Akte A)
- Ein in Eis gebranntes Herz – Tina Somogyi (Akte B)
- Knochen, Einsamkeit und Orchideen – Robert Friedrich von Cube (Akte C)
- Der Traum von Freiheit – Louise Hofmann (Akte D)
- Die Knochen der Götter – Thomas Heidemann (Akte E)
- Mond und Ozean – Mia Faber (Akte F)
- Werft Bohnen auf Dämonen – Nele Sickel (Akte G)
- Der Fluch von Edo – Yens Finder (Akte H)
- Yoroi no dorei – M. W. Ludwig (Akte I)
- Brüder – Jan Mischke (Akte J)
- Shangri La – Fay Winterberg (Akte K)
- Maschine – Michael Sterzer (Akte L)
- Epilog
- Zwischen den Geschichten Interludium I – XII
Chancenverwertung: unterschiedlich
Werner Graf startet mit der 1000 v. Christus in Papua-Neuguinea spielenden Geschichte „Khakhua“, in der ein Geisterjäger zum bösen Geist erklärt wird. Im Rahmen eines Rituals soll er nun getötet und gegessen werden. Er flieht und erfährt das Geheimnis der magischen Knochen.
„Khakhua“ ist eine düstere Geschichte. Sie endet zwar mit einer spektakulären Enthüllung, lässt aber trotzdem einen knackigen Wendepunkt vermissen. Zudem ist es schade, dass hier die Chance vertan wurde, einen kulturellen Aspekt dieser Inselregion vorzustellen, der nichts mit Kannibalismus zu tun hat.
Einen Machtkampf zwischen Brüdern inszeniert Jan Mitschke in der Geschichte „Brüder“. Sie spielt irgendwann zwischen 1450 und 1750 in Malaysia und erzählt von einem Sultan, der um jeden Preis sein Land gegen überlegene Invasoren verteidigen will. Die Garuda, geflügelte Kriegerrüstungen, sollen es richten.
Trotz des spannenden Ausgangszenarios verläuft diese Geschichte eher gradlinig und lässt einen kulturellen Bezug zum Schauplatz weitestgehend vermissen, denn sie könnte überall in Asien spielen.
Michael Sterzer beschließt mit „Maschine“ die Anthologie. Die Geschichte spielt in China gegen Ende des 19. Jahrhunderts und erzählt vom Schicksal einer jungen Frau, die für ein grausames Experiment missbraucht wird.
Beeindruckend sind die Beschreibungen des an einen Cyborg erinnernden Maschinen-Menschen. Auch der Wendepunkt der Story ist gelungen. Jedoch fehlt auch hier jeglicher Bezug zu China.
Mit Steampunk, Magie und dem Schauplatz Asien stand den Autor:innen ein interessantes Themengerüst für ihre Geschichten zur Verfügung. Nicht allen Autorinnen und Autoren ist es gelungen, diese unterschiedlichen Aspekte zu vereinen. Manchmal fehlt es an knackigen Wendepunkten, für den Ideen aus Technik und Magie hätten genutzt werden können. Oder es fehlt der Bezug zum Schauplatz Asien, etwa das Flair der Region oder ein überraschendes Detail aus der Kultur.
Themengerüst schlüssig und unterhaltsam genutzt
Vielversprechend beginnt „Einsamkeit und Orchideen“ von Robert Friedrich von Cube. Die Geschichte spielt im Laufe des 19. Jahrhundert auf Sumatra (Indonesien). Der Vortragende referiert über das Leben des Sir Thomas Stanford Raffles (historische Figur: Gründer des modernen Singapur), der auf Java ein Geheimnis hütete. Mit explosiven Mitteln.
Von Cube stellt einen direkten Bezug zu der Organisation Nachtfalter aus der Rahmenhandlung her und erzählt eine äußerst spannende, phantastische Geschichte vor einem glaubwürdigen historischen Hintergrund aus der Zeit des Kolonialismus.
In „Der Traum von Freiheit“, eine Geschichte, die im 17 Jahrhundert in China spielt, vereinigt Louise Hofmann bekannte Elemente aus der chinesischen Historie, Kultur und Mythologie zu einer düsteren Story mit einem überraschenden Ende. Chinas gigantische Mauer hält die Tataren davon ab, das Reich zu erobern. Doch es ist nicht allein die äußerlich sichtbare Stärke, die das Bauwerk unüberwindlich macht. In ihrem Inneren versorgt der Lóng, ein Drache die Mauer mit magischer Stärke. Eine Tortur, die das Wesen einen langsamen, quälenden Tod sterben lässt.
„Der Traum von Freiheit“ ist eine düstere Erzählung, in der ein vermeintlich bedeutungsloser Techniker ein verschlagenenes Wesen aus der chinesischen Mythologie austrickst und eine überraschende Lösung präsentiert.
„Yoroi no dorei“ von M.W Ludwig spielt im Jahr 1701 auf der Insel Kyushu. Sie liegt süd-westlich von Honshu, der Hauptinsel Japans. Das Reich steht unter chinesischer Herrschaft und japanische Kollaborateure unterdrücken das eigene Volk. Die junge Saki gehört zu den Ärmsten und somit zur Kaste der Hi nin, Nicht-Menschen. Sie stahl einen Apfel und wurde erwischt. Soldaten dringen daraufhin in die Behausung ein, die sie mit Schwester und ihrer Mutter teilt. Die ältere Miyu erhält vom Präfekten Gonda höchstselbst einen mysteriösen Auftrag. Sie soll die Rüstung des ehemaligen Tennõ Fushimi bergen, was eine schier unmögliche Aufgabe ist.
M.W. Ludwig ersann für diese Geschichte nicht nur eine faszinierende Alternativhistorie, sondern erzählt eine äußerst spannende kleine Queste, in die er Wesen aus der japanischen Mythologie, sowie Magie und Technik integriert. Zudem traut er sich ein offenes Ende und überlässt den Lesenden die Auflösung eines furchtbaren Dilemmas.
Mein persönlicher Favorit spielt in Japan
Es ist die Geschichte „Werft Bohnen auf Dämonen“ von Nele Sickel. Die Autorin ist phantastisch-lesen Redakteurinnen schon in anderen Anthologien wie „Das geheime Sanatorium“, „Geister der Vergangenheit“ und „Die Einhorn Akten“ positiv aufgefallen. Für die Steampunk Akte Asien schrieb sie eine Geschichte, die Ende des 16.Jahrhunderts in Kyoto spielt. Abwechselnd erzählen die Zwillingsgeschwister Kenji und Ima von einem denkwürdigen Tag im Rozanji-Tempel, als dort das Ritual zur Dämonenvertreibung zelebriert wird.
Ima gehört zu den traditionsbewussten Tempeljungfern. Kenji hingegen kommt gerade aus einer dreijährigen Lehrzeit zurück, die ihm Einsichten in den Fortschritt ermöglichte. Mitgebracht hat er einen mechanischen Saatvogel, den er im Kaiserpalast vorzuführen plant. Doch zuerst möchte er die so lange vermisste Ima in die Arme schließen. „Oni hinaus“ – Glück herein“. Diesen Rufen folgt das Beschießen mit Pfeilen und Bewerfen mit Bohnen. Die Dämonen sind natürlich nur verkleidet, einige mit völlig übertriebenen Klauen. Auch eine traditionsbewusste Maskerade ist dabei, mit blauer Farbe, Maske und Keule. Oder ist der etwa – echt?
„Werft Bohnen auf Dämonen“ vermittelt auf spannende und zugleich anrührende Weise, was Japan in den Augen vieler Menschen ausmacht: die Vereinigung von Tradition und Moderne. Die Autorin beschwört in ihrer Geschichte das einzigartige traditionelle Flair Japans herauf und verweist zugleich auf das, was das Land vor allen im 20 Jahrhundert auszeichnete: innovative Technik.
Die Rahmenstory um das Archiv der Organisation „Nachtfalter“ verbindet die Akten A bis L schlüssig und mit gelegentlich eingestreuten Querverweisen. Jedoch lässt sie Eigenständigkeit vermissen, obwohl im Epilog der zuweilen angedeutete Feind zum Vorschein kommt. Irgendwie schafft der es allerdings nicht, der Anthologie einen knackigen Abschluss zu verleihen.
Fazit
Insgesamt lohnt sich die Anthologie „Steampunk Akte Asien“ eher für Fans des Kontinents, denn des Steampunks. Die meisten Geschichten vermitteln neben Spannung und Faszination für Technik und Magie auch die Kultur des jeweiligen Landstriches und einige Geschichten lassen genau das vermissen. Leider geht aus den Vitae der Autor:innen nicht hervor, welche Verbindung sie zu Asien haben. Darüber hinaus bin ich verwundert darüber, dass anscheinend niemand mit asiatischen Wurzeln an der Anthologie mitgeschrieben hat. Einer Anthologie, in der die Kultur und die Historie Asiens einfließt, würde eine Perspektive mit Own Voice Charakter sicherlich guttun.
Die Gestaltung der Anthologie lässt dagegen nichts zu wünschen übrig. Trudy Wenzel gestaltete die stilechte Cover-Art, mit einer jungen Dame im Kimono, mit Kompass und Uhrwerk, mechanischen Drachen und einem japanischen Torii. Im Inneren finden wir Karten, antike Aktendeckel und weitere stimmungsvolle Grafiken, die das Buch zu einem kleinen Schmuckstück machen.
Eva Bergschneider
Die Steampunk Akten, Sammlung 2
Steampunk
Art Skript Phantastik
Oktober 2020
Buch
240
Trudy Wenzel
70