Sun-Daughters, Sea-Daughters – Aimee Ogden

Ein Märchen aus der guten alten Zukunft

Sun-Daughters, Sea-Daughters - Aimee Ogden© Tordotcom/pixabay
Sun-Daughters, Sea-Daughters © Tordotcom/pixabay

„Sun-Daughters, Sea-Daughters“ wird als „lyrical space opera that reimagines The Little Mermaid“ [Umschlagrückseite] beworben. Wir sollten dennoch keine Neuerzählung von Hans Christian Andersens „Die kleine Meerjungfrau“ erwarten. Vielleicht auch keine Weltraumoper.

Die Menschheit lebt verstreut in der Galaxis. Technologien zur genetischen Anpassung ermöglichen ein Leben im Wasser, wie auch unter extremen Umweltbedingungen an Land. Die Verwandte der kleinen Meerjungfrau heißt Atuale. Sie war ursprünglich eine Meeresbewohnerin auf dem Planeten Maraven und Tochter des Greatclan Lords. Von der Welt-Hexe hat sie sich genetisch modifizieren lassen, damit sie mit ihrem Geliebten, dem Landbewohner Saareval leben kann. Dies führte nicht nur zu einem Krieg; auch haben die Vo, Saarevals Clan, Atuale nicht angenommen. Die Handlung der Novelle setzt ein, als unter den Vo eine tödliche Seuche wütet.

Atuale bittet die Welt-Hexe um Hilfe. Sie haben einander einmal geliebt. Überrascht ist Atuale darüber, dass die Welt-Hexe nach genetischer Modifizierung ein männlicher Schwarzhändler ist und sich Yanja nennt. Nachdem die Modalitäten geklärt sind, fliegen beide mit Yanjas Raumschiff „Unfortunate Wanderer“ in ein Abenteuer und eine für Atuale fremde Welt. Ziel ist der Planet Farong, auf dem eine Kaste von Biopriestern Medikamente entwickelt. Die Frage, ob sie das Mittel bekommen, ist in dieser Geschichte so nachrangig wie trivial. Wichtiger ist, was während der Reise geschieht.

Queere Protagonist*innen

Die für das Märchen geschlechtsspezifischen Rollen werden in Ogdens Novelle aufgelöst. Die Beziehung zwischen den beiden queeren Lebewesen Atuale und Yanja ist kompliziert. Sie haben fundamentale Transformationen durchlaufen, Atuale von der „Meerjungfrau“ zur Landbewohnerin, Yanja von der Frau zum Mann. Die Welt-Hexe war Atuales erste Liebe, nun liebt sie einen Mann.

Die Meerjungfrau, die bei Andersen das Wasser verlässt um auf der Erde zu leben, schlussendlich in einer weiteren Aufwärtsbewegung zum Luftwesen wird und dort ihre Stimme wiederbekommt, lässt sich auch in heutigen Diskursen interpretieren: Sichtbar werden, eine eigene Stimme erhalten.

„But she already knows, for the gravity of fear and doubt has her back in its grasp.“ [S.62]

Atuale ist eine bisweilen impulsive Protagonistin. Sie verursacht ein Problem, indem sie Saareval verlässt und mit Yanja auf die Reise geht. Sie will, als es auf Farong Schwierigkeiten gibt, zum nächsten Planeten fliegen und bei einem weiteren Problem Yanja mit dem Heilmittel alleine zu den Vo schicken.

Yanja hingegen ist ein kontrollierter Akteur. Durch seine Schwarzmarktgeschäfte und die damit verbundenen Beziehungen ist er sehr erfahren. Er bestimmt ein Ziel, entwickelt einen Plan und führt ihn durch. Er gibt sich, als sei er ein Vertreter desinteressierter Vernünftigkeit, der sich gegenüber anderen Menschen neutral verhält. Ihnen also nicht schadet und nur seinem persönlichen Nutzenkalkül folgt. Dies wird deutlich in der Verhandlung, die er mit Atuale vor Beginn der Reise führt. Dass er aber nicht so eindimensional gestrickt ist, zeigt er im Verlauf der Reise.

Die Clans stehen zueinander in konfliktträchtiger Beziehung. Xenophobie wird subtil behandelt, so in einem kurzen Dialog zwischen Yanja und Atuale. Saareval, Atuale und Yanja bilden eine Dreiecksbeziehung, die nicht nur in der Figurengestaltung ein wenig an „Lady Chatterley“ erinnert.

Eine Individuationsgeschichte

Spätestens seit Joseph Campbells „Der Heros in tausend Gestalten“ (1978) wissen wir, dass es eine sehr alte Geschichte hinter den Geschichten gibt. So erzählen Märchen eine Individuationsgeschichte, vom Aufbruch in die Welt, um eine große Tat zu vollbringen, um sich selbst zu finden und – eine Kreisbewegung vollziehend – zum Ort des Aufbruchs zurückzukehren. Die Novelle beginnt damit, dass Atuale aufbricht, ohne sich zu verabschieden. Ein einzelner kurzer Satz, zugleich ein Absatz für sich.

Atuales wichtigstes Opfer besteht in der Aufgabe der ursprünglichen Identität als Meerjungfrau und der Trennung von ihrer Familie. Bei den Vo ist sie zwar mit dem Geliebten vereint, gilt jedoch als Fremde, die, wie Yanja einmal sagt, nach all den Jahren nicht dazugehört. Sie musste einen ihr vorher nicht bekannten Preis zahlen, der zu ihrer Traumatisierung geführt hat. All dies ist bereits geschehen, als die Gegenwartshandlung der Novelle einsetzt.

Die Initiation geht einher mit der Erweiterung der Erfahrungswelt. Vor Beginn der Reise lebt Atuale in einer Welt des Entweder-oder, des ständigen Bemühens, eine Balance zwischen zwei fixen Lebensentwürfen zu finden. Auch deshalb ist ihre Reise notwendig: damit sie eintreten kann in die Welt des Sowohl-als-auch.

Das Narrativ ist bestimmt durch Übergänge und Transformationen, die in neue Lebensphasen einführen. Auf ihrer Quest treffen Yanja und Atuale auf Widerstand, erhalten Hilfe und müssen Probleme bewältigen. Atuale hat einen interessanten Weg vor sich, der ihre Selbstfindung vollendet. Und darüber hinaus oder als Bestandteil dessen ein Ergebnis zeitigt, das zur Auslöschung des Traumas führt und den Titel der Novelle erklärt.

„She wanted to embrace the stars; instead they are embracing her.“ [S.69]

Ein anderer Umgang mit der Seuche

Auf dem Planeten Farong müssen Atuale und Yanja in eine zweiwöchige Quarantäne, weil sie aus einer Seuchenregion (Risikogebiet) kommen. Sie werden mit einem Biofilm überzogen, einem bläulichen Gel zur Verringerung des Kontaminationsrisikos. Derweil entwickeln Biopriester ein „Bionanite“ genanntes Serum für die Vo. Naniten, Nanobots, die sich durch die Blutbahn bewegen haben in der Science Fiction alte Verwandte. Am Ende müssen Atuale und Yanja das Heilmittel nicht bezahlen. Leben schützen ist eine höhere Aufgabe, Bezahlung für Hilfe eine Beleidigung.

Insgesamt ist „Sun-Daughters, Sea-Daughters“ ein Traum von einer anderen Welt. Davon, dass Menschen nicht nur durch die Verhältnisse hervorgebracht werden, sondern sie auch Stärken entwickeln können, die nicht vor Einlassung auf ein Wagnis zuerst fragen, was für sie drin ist.

Fazit

Ogden erzählt in „Sun-Daughters, Sea-Daughters“ eine vielschichtige Story, in subtil ausbalancierten Sätzen und deskriptiven Passagen mit harmonisch sich einfügenden Dialogen.

Danke an Gastredakteur Holger Wacker

Sun-Daughters, Sea-Daughters
Aimee Ogden
Fantasy /SF
Tordotcom
Februar 2021
110
Chase Stone
79

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