Ans andere Ende der Welt (His Dark Materials 4) – Philip Pullman

Ein Schmelztiegel für Gedanken aus Politik und Philosophie in feinstem Fantasy-Gewand

Ans andere Ende der Welt His Dark Material Bd4 - Philip Pullman© Carlsen Verlag
Ans andere Ende der Welt © Carlsen Verlag

Als Philip Pullman mit „Über den wilden Fluss“ eine neue Teilserie „The Book of Dust“ zur populären Reihe „His Dark Materials“ anfing, war die Freude unter den Fans groß und entsprechend hoch die Erwartungen. Dieser Roman ist ein Prequel zu „Der Goldene Kompass“ und erhielt vom Carlsen Verlag die Bezeichnung Band null. „Der Goldene Kompass“ und seine Nachfolger (Band zwei „Das magische Messer“ und drei „Das Bernsteinteleskop“) gehörten um den Jahrtausendwechsel für mich zu den besten Fantasy-Büchern überhaupt. In der Nachbetrachtung stehen in einer Reihe mit „Der Herr der Ringe“ (J.R.R. Tolkien) und den „Erdsee“ Büchern von Ursula K. Le Guin.

Von der Vorgeschichte war ich jedoch enttäuscht. Allein der genialen Schreibe des Autors war es zu verdanken, dass ich das Buch dennoch genoss. Aber das einzigartige „His Dark Materials“ Feeling der Bände eins bis drei wollte sich nicht einstellen. Dem Autor Bernhard Stäber ist es zu verdanken, dass ich Band vier „Ans andere Ende der Welt“ dennoch las. Über die sehr empfehlenswerte „His Dark Materials“ Netflix-Serie kamen wir auf „The Secret Commonwealth“, so heißt der Band im Original, zu sprechen. Bernhard lobte ihn in den höchsten Tönen – Danke dafür.

Es ist wieder da.

„Ans andere Ende der Welt“ brachte es tatsächlich zurück. Das unvergleichliche Flair, wie es nur eine reichhaltige Geschichte erzeugen kann, die relevante Fragen unseres Lebens streift und in ein zauberhaftes und zugleich düsteres Fantasy-Gewand hüllt. Mit Protagonisten, die zugleich geheimnisvoll und trotzdem vertraut erscheinen. Die sich entwickeln, nicht immer sympathisch sind, sondern originär und echt. Auch wenn sie einen Dæmon als ständigen Begleiter und Teil ihrer Selbst haben. Und besonders dann, wenn sie ihn verlieren.

Lyra Belaqua, die vom Bärenkönig den Namen Lyra Listenreich erhielt, ist nun Studentin im St. Sophia  Collage in Oxford. Sie beschäftigt sich mit der Literatur von Rationalisten und Skeptikern, wie dem deutschen Philosophen Gottfried Brande. Dessen Roman „Hyperchorasmianer“ ist gerade der letzte Schrei unter jungen Akademikern. Pantalaimon hasst das Buch, denn dieser Autor zweifelt die Existenz von Dæmonen an. Doch Lyra gefällt diese nüchterne, minimalistische Weltsicht:

» „Es war nicht mehr, als das, was es war.“ « [S93]

Seit dem Abenteuer am Ufer der Toten können sich Lyra und Pan trennen, ohne vor Schmerz zu vergehen. Pantalaimon verlässt nachts Lyras Zimmer, weil er nach Streitereien mit ihr Abstand braucht. Auf einem dieser Streifzüge durch Oxford beobachtet er den Mord an einem Mann.  Kurz bevor das Opfer sein Leben aushaucht, übergibt es eine Geldbörse an Pantalaimon, den er als abgetrennten Dæmon erkennt. Doch Pan ist nicht der einzige Zeuge. Ein weiterer Dæmon auf Freigang, die Katze Asta, die zum Protagonisten aus „Über den wilden Fluss“ gehört, beobachtet das Geschehen. Lyra kennt Malcolm Polstead flüchtig als College-Lehrer. Sie ahnt nicht, welch wichtige Rolle dieser am Anfang ihres Lebens spielte.

Die Recherche nach dem Mordopfer führt Lyra und Malcolm zusammen. Gemeinsam finden sie heraus, dass es sich um den Botaniker Rodrick Hassall handelt, der gerade aus der Wüste Karamakan angereist war. Ausschließlich in der hier angesiedelten botanischen Forschungsstation wachsen Rosen, aus denen ein besonderes Öl produziert wird. Es macht Staub sichtbar. Malcolm begibt sich auf die Reise zu diesem geheimnisvollen Ort.

Ein Teil der Seele verschwindet

» „Bin auf der Suche nach Deiner Fantasie“ « [S. 219]

schreibt Pantalaimon zum Abschied, bevor er Lyra verlässt und sich auf seine Reise begibt.

Lyra ist in ihrem Zuhause für die Ferien, dem Jordan Collage, nicht mehr erwünscht. Jemand durchwühlt ihr Zimmer und stiehlt Hassalls Rucksack. Das Magisterium ist ihr auf den Fersen, als sie zuerst zu Fader Coram van Texel reist und anschließend nach Asien. Ihr Ziel ist das sogenannte Blaue Hotel, ein Ort an dem abgetrennte Dæmonen angeblich Zuflucht finden. Unterwegs helfen ihr Menschen des Oakley Street Netzwerks. Dennoch werden die Stationen ihrer Reise immer dunkler und bedrohlicher.

An Reichhaltigkeit kaum zu überbieten

 » Er wusste besser als die meisten anderen, wie stur sie sein konnte, aber er fragte sich, wie viele Menschen die Einsamkeit in ihrer Mine wahrgenommen hatten, die deutlich sichtbar wurde, wenn sie einmal nicht wachsam war.«[S. 150]

Die Bände eins bis drei der „His Dark Materials“ Reihe las ich gemeinsam mit meiner Tochter, als sie 12 Jahre alt war. Also ungefähr so alt wie Lyra. Wir genossen beide, dass wir Lesestoff gefunden hatten, der uns gleichermaßen begeisterte. Ich war damals schon von der kritischen Haltung gegenüber der Verknüpfung von Religion und Politik angetan. Und habe die Lektüre nie als die eines Kinder- oder Jugendbuchs empfunden. Meine Tochter verstand diese Aspekte noch nicht, erfreute sich aber trotzdem an der faszinierenden Welt, den Protagonisten und Dæmonen. So wie ich.

Mit „Ans andere Ende der Welt“ liegt nun eine erwachsene Version des „Goldenen Kompass“ vor. Nicht nur Lyra ist erwachsen geworden, sondern auch die Herausforderungen. Die Protagonistin hat sich verändert. Aus dem unerschrockenen Mädchen wurde eine Akademikerin und Skeptikerin. Philip Pullman verlieh seiner ehemaligen Heldin melancholische, depressive Züge. Sie ist nicht einmal mehr in der Lage, für ihr Recht, am Jordan College zu wohnen, einzustehen. Eine glaubwürdige Entwicklung?

Auf jeden Fall. Denn ein einsamer Mensch ohne Familie und Freunde auf Augenhöhe verliert die innere Stärke. In der akademischen Umgebung klammert sie sich an das, was ihr Anerkennung verspricht, Theorien um eine neue Weltsicht. Die innere Trennung von einem Teil ihrer selbst, ihrem Dæmon Pantalaimon, ist zugleich Ursache und Folge dieser Entwicklung. Kein Wunder, das wir die Lyra aus den alten Bänden kaum wiedererkennen.  Es ist zugleich die Chance, eine neue, andersartige Geschichte, ohne eine typische Heldenreise zu präsentieren. Düsterer, noch politischer, noch tiefgreifender.

Die Geschichte, die Lyra, Malcolm und Pantalaimon erzählen, lässt wenige Themen aus, die uns als Gesellschaft bewegen. In der „His Dark Materials“ Welt formiert sich erneut eine Allianz aus Wissenschaft, religiösem Fanatismus und politischer Macht. Es wirkt fast lächerlich, über Fachrichtungen wie Dogmatische Logik oder Experimentaltheologie zu lesen. Dabei denkt Pullman hier lediglich Formen fanatischen Glaubens zu Ende und baut die Konsequenzen in seine Geschichte ein: Zerstörung der unabhängigen Forschung, Verfolgung Andersdenkender, Ableismus, Misogynie und Gewalt gegen Frauen, Manipulation und Täuschung, Tyrannei und Massenflucht. Dabei schickt er seine Protagonisten auf Reisen um die Welt und tief hinein in diabolisch anmutende Verschwörungen und Gefahren.

 Storytelling zum Niederknien

 »“Ich habe damals nur dummes Geschwätz erzählt.“ [..] „Das Wort hat mich Scoresby gelehrt. Er erklärte mir, dass es Wahrheitsverkünder gebe, und die müssten die Wahrheit kennen, um sie weitergeben zu können. Und dann gebe es Lügner, die müssten die Wahrheit kennen, um sie verdrehen oder ignorieren zu können. Und schließlich wären da noch die Dummschwätzer, die sich keinen Deut um die Wahrheit kümmern würden. [..] Was sie sagen, entspreche nicht der Wahrheit, aber es seien auch keine Lügen, es sei einfach nur dummes Geschwätz. Sie wären nur an ihrer eigenen Darstellung interessiert.“« [S. 335]

 Trotzdem dass sich Band vier der Reihe wesentlich von den ersten Bänden unterscheidet, ist er derjenige, der den Zauber um Lyras Welt zurückbringt. Denn es geht nicht nur um Politik und Philosophie. Sondern um die Beziehungen zwischen Menschen und Dæmonen, irgendwo zwischen einer tiefen Freundschaft und der Selbstfindung eines Menschen. Pullman vertieft diese Thematik, indem er  Lyra Wegbegleiter zur Seite stellt, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihre Dæmonen verloren haben. Es zerreißt einem das Herz, zu sehen, wie diese Beziehungen zerbrechen. Zugleich fasziniert dieses Wechselbad der Gefühle zwischen Abhängigkeit und Freiheit.

Philip Pullman ist ein begnadeter Erzähler und Schriftsteller, mit einer ausgewogenen, warmen und anschaulichen Art, zu schreiben. Komplexe Themen vermag er in Bildern darzustellen, anspruchsvolle Dialoge auf den Punkt zu formulieren und sie zugleich mit Sarkasmus und Emotionen zu bereichern. Deshalb gelingt ihm die Verknüpfung von essentiellen Fragen aus unserer Welt und einer beispiellos originären und originellen Fantasy-Geschichte mit Leichtigkeit. Wie wenige andere Autoren verzaubert er die Leser*innen, fordert sie und schenkt ihnen gehaltvolle Fantasy-Literatur. Nicht von ungefähr habe ich die „His Dark Materials“ Reihe 20 Jahre nicht aus den Augen verloren und kann den nächsten Band kaum erwarten

Für jedes Alter zu empfehlen?

„Ans andere Ende der Welt“ wird für eine Altersgruppe ab 14 Jahren empfohlen. Mein erster Gedanke dazu war, dass Teenager mit der Komplexität der Materie und der Düsternis der Atmosphäre überfordert sein dürften. Jedoch mag ich mich irren und werde hierzu die Meinung meiner Tochter einholen, sollte sie diese Fortsetzung, vermutlich eher die Originalausgabe „The Secret Commonwealth“, lesen.

Eva Bergschneider

Ans andere Ende der Welt
His Dark Materials, Band 4
Philip Pullman (Übersetzung: Antoinette Gittinger)
Fantasy, Steamfantasy
Carlsen Verlag
März 2020
752
Bruno Gentile

Funtastik-Faktor: 90

2 Gedanken zu „Ans andere Ende der Welt (His Dark Materials 4) – Philip Pullman

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