Philosophischer Essay und Science-Fiction Krimi
Im Jahr 2643 ist die Erde unbewohnbar und der Rest der Menschheit lebt auf anderen Planeten oder Monden unseres Sonnensystems. Vollständig abhängig von lebenserhaltenden KI-Systemen, genannt die Obhut.
Auf dem Neptunmond Athos gibt es ein kleines Kloster in einer ehemaligen Mine. Sieben Cönobit-Mönche gehen dort ihrem Tagewerk, der Verwaltung einer Fleischproduktion, nach. Einer der Mönche, ausgerechnet Klostervorsteher Hilal, stirbt unter fragwürdigen Umständen. Insbesondere ist die Rolle der KI des Klosters, der MARFA, verdächtig. Rüd Kartheiser ist Inquisitor und ein Verhör-Spezialist für KIs. Ihn und seine Assistentin Zack, eine weitere KI in der Gestalt einer Frau, schickt die Obhut nach Athos. Ihre Aufgabe besteht darin, den Tod des Mönchs aufzuklären und die Systemeinstellungen der KI MARFA zu ändern. Eine der Herausforderungen dieses Jobs besteht darin, dass die KI dem Eingriff zustimmen muss.
Doch nicht allein die MARFA stellt sich Rüds Vorhaben entgegen, auch die Mönche verhalten sich nicht alle kooperativ. Den Tod ihres Hegumen nehmen sie hin und ihr Ritus fordert die Gefährdung von Leib und Leben geradezu heraus. Immer klarer wird, dass Rüd hinter das Geheimnis ihrer Bestimmung auf dem Mond kommen muss, um das Rätsel zu lösen. Und ebenso gilt es, hinter das Geheimnis seiner eigenen Bestimmung zu kommen.
Wie frei ist der Mensch?
Mit Nils Westerboers Roman „Athos 2643“ glaubte ich zunächst einen SF-Krimi zu lesen, der spannende Rätsel mit innovativen Ideen zur Zukunft der Menschheit und der Künstlichen Intelligenz kombiniert. All das bietet „Athos 2643“ Lesenden tatsächlich. Jedoch stellt sich heraus, dass wir es ebenso mit einer Parabel um essenzielle, philosophisch anmutende Gedanken und Fragen zu tun haben.
Freiheit. Die Frage danach, wie frei oder abhängig Menschen sind, ist einer der roten Fäden dieses Romans. Trotz einer vollständigen Abhängigkeit von lebenserhaltenden KI-Systemen, glaubt Rüd frei zu sein. Seiner Assistentin Zack, einer Mischung aus Alexa10 und einer Art Hostess, sind hingegen Beschränkungen auferlegt. Sie ist ihrem Besitzer ergeben und verwendet nur 30% ihres Potenzials.
Aus einer feministischen Perspektive ist Rüds Beziehung zu seiner weiblichen KI Zack nicht einfach zu lesen. Nils Westerboer verzichtet darauf, Rüd zum Sympathieträger zu erheben, der mit seiner KI-Frau partnerschaftlich umgeht. Zack entspricht äußerlich seinen Vorstellungen einer perfekten Frau nicht ganz. Es gehört zum Designkonzept, dass Attraktivität eben nicht einer perfekten Vorstellung entspricht. Rüd benutzt Zack nach Belieben als Computer, als Wissensquelle, als Gesellschafterin und als Frau.
Zack hingegen funktioniert exzellent als Sympathieträgerin, allein dadurch, dass sie die Ich-Erzählerin der Geschichte ist. Aus ihrer Perspektive erleben Lesende die spannenden, gruseligen, verstörenden und erhellenden Geschehnisse auf Athos. Präsentiert mit feinem Witz und wohl dosierter Besserwisserei. Wie Rüd vergessen wir beinahe, dass sie eigentlich kein Mensch ist.
Eine der bedeutsamsten Entwicklungen dieses Romans ist, dass diese Abgrenzung zwischen dem augenscheinlich freien Menschen und der vom Menschen kontrollierten KI verschwindet. Und zwar nicht erst, als Zacks Einschränkungen aufgehoben werden, sondern durch die gemeinsamen Ermittlungen. Rüd beginnt nach Zacks Bedürfnissen zu fragen.
In „Athos“ steckt viel Asimov
“Ihre MARFA ist eine Mörderin“, sagt Rüd. „Können Sie das beweisen?“, fragt Gembdenbach harsch.
In diesem Moment löst sich eine Ersthelferdrohne am Ende des Flurs aus der Verankerung. Ich höre es, bevor es alle anderen hören können. Ein leises Klicken und Surren.
„Genauer gesagt, ist sie eine Töterin“, führt Rüd aus.
„Was – ist – der – Unter – – Schied?“ will Uri wissen. „(..) Sie stellt Bedingungen her, in denen ein Mensch sterben wird, ohne dass sie schuld ist.“
S. 264
MARFA ist die KI, die in Nils Westerboers lebensfeindlicher Romanwelt den Lebensraum auf Athos erschafft. Sie bestimmt darüber, wie dieser in brenzligen Situationen aufrechterhalten wird. Was ist schützenswerter? Das Individuum, oder die Menschheit?
Wir kennen die Asimov’schen Gesetze für Roboter und „Athos 2643“ zeigt ihre Grenzen auf.
- Ein Roboter darf keinem menschlichen Wesen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass ein menschliches Wesen Schaden erleidet.
- Ein Roboter muss den Befehlen gehorchen, die ihm von Menschen erteilt werden, es sei denn, dies würde gegen das erste Gebot verstoßen.
- Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange solch ein Schutz nicht gegen das erste oder zweite Gebot verstößt.
1983 erweiterte und modifizierte er die Aufzählung um ein 0-tes, also über den anderen drei stehendes Gesetz:
- Ein Roboter darf der Menschheit keinen Schaden zufügen oder durch Untätigkeit zulassen, dass der Menschheit Schaden zuteilwird.
Mit seiner Erweiterung um das Roboter-Gesetz 0 positioniert Asimov das Wohl der Menschheit über das des Individuums. Und um diesen moralischen Konflikt geht es in „Athos 2643“. Westerboer stellt uns die Konsequenzen dieser Gesetze vor und hinterfragt diese. Und bietet höchst überraschende Lösungen an.
Gott, KI und Mensch
“Wem vertrauen sie eigentlich mehr?“, fragte Rüd kopfschüttelnd „Ihrer MARFA oder dem lieben Gott?“ Gembdenbach hebt die Hände. Als sei Rüd ein unbelehrbares Kind, an das jede Mühe verschwendet ist. Uri springt für ihn ein. „Das – Oder – ist – falsch!“, piept er.
S. 195
Überzeugend charakterisiert Nils Westerboer auch die Mönche. Vom dominanten Gembdenbach, über den exzentrischen Shufeng, dem technisch versierten Marwan, bis hin zum sprachbehinderten Uri. Auf ihre eigene Weise ist jeder einzelne Mönch skurril und geheimnisvoll.
Im Kloster sind keine Frauen erlaubt. Da Zack eine KI ist, darf sie hinein, wird allerdings um angemessene Kleidung gebeten. Trotzdem stört sie den Klosterfrieden, wofür ein Unbeteiligter stellvertretend Buße tun muss. Toxische Männlichkeit und mittelalterlich anmutende Strafen prägen hier anscheinend das Handeln der Cönobiten. Oder verbirgt sich etwas anderes dahinter?
Der Glaube der Gemeinschaft klingt in Auseinandersetzungen zwischen den Mönchen und Rüd immer wieder an. Westerboers Storywelt ist zum Teil muslimisch geprägt, die Religion der Cönobiten trägt dagegen frühchristliche Züge. Somit fließen viele theologische Betrachtungen zum Beispiel aus dem Alten Testament in die Geschichte ein, die ihren Teil zu einem weiteren roten Faden beitragen: Der Frage danach, was den Menschen ausmacht und von der Maschine unterscheidet. Nils Westerboer integriert Varianten des bekannten Turing Test in die Geschichte und präsentiert auch hier eine überraschende Pointe.
Schöner Schreibstil, trotz befremdlicher Begriffe
Nils Westerboers Schreibstil prägen anschauliche Bilder und er schreibt wunderbar klar und präzise. Die Schauplätze zeichnet er so detailreich, dass man stets Bilder von ihnen im Kopf hat, manchmal intensiver, als angenehm ist. Vor allem in den Dialogen zeigt sich der Esprit, mit dem der Autor zu formulieren weiß. Knackig kontrovers, oder empathisch und eindringlich beschreibt er Rüds Gespräche mit Zack, der MARFA und den Cönobiten.
Was den Lesefluss bisweilen bremst, sind viele Eigen- und Fachbegriffe, die nur zum Teil im Glossar erklärt werden. Letzteres hätte ruhig etwas umfangreicher ausfallen dürfen.
Viel mehr als spannende Lektüre mit Anspruch
Eine Rezension zum Roman „Athos 2643“ von Nils Westerboer zu schreiben, ist eine echte Herausforderung. Es stecken so unendlich viele Themen und Thesen in dem Roman, dass es unmöglich ist, alle wichtigen zu nennen. Dazu gilt es abzuwägen, welche Wendung man andeutet und welches Detail preisgegeben werden darf. Die Gefahr Storyelemente zu spoilern, die andere Lesende selbst entdecken und interpretieren sollten, ist enorm hoch.
Nils Westerboer ist es auf faszinierende Art und Weise gelungen, den Plot eines SF-Krimis und Diskurse über Moral, Theologie und Zukunftsvisionen zu einer clever strukturierten Geschichte zu komponieren. Deren Entwicklung ist niemals auch nur ansatzweise vorhersehbar. „Athos 2643“ ist ein anspruchsvoller Roman, der von Lesenden hohe Aufmerksamkeit, die Bereitschaft und Fähigkeit ständigen Hinterfragens und gelegentlichen Recherchierens verlangt. Wer sich darauf einlässt, erlebt ein SF-Leseerlebnis der besonderen Art: mitreißend, fordernd, verblüffend, Horizont erweiternd und wunderbar.
Die Rezension erschien zuerst im Magazin PHANTAST, Ausgabe 27 „Künstliche Intelligenz“
Eva Bergschneider
Science Fiction
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Februar 2022
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Birgit Gitschier
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