Das Neunte Haus – Leigh Bardugo

Tote, schwarze Magie und eine Grenzgängerin

Das Neunte Haus © Knaur Verlag
Das Neunte Haus © Knaur Verlag

Yale ist die drittälteste und eine der renommiertesten Universitäten der Vereinigten Staaten. Und wahrscheinlich die skurrilste. Allein die Namen der Studentenverbindungen Skull & Bones, Scroll and Key, Wolf’s Head, und Book and Snake klingen geheimnisvoll und großspurig. Dass in den acht Häusern gefährliche, dunkle Magie praktiziert wird, ist in der Romanwelt von „Das Neunte Haus“ nicht allgemein bekannt. Dass diese bisweilen außer Kontrolle gerät, wissen nur Praktizierende und Eingeweihte. Um unvorhersehbare und fatale Folgen der Rituale in Grenzen zu halten, gründete die Universität ein weiteres Haus namens Lethe.

Alex, eine Erstsemesterstudentin, stammt aus Kalifornien und nicht gerade aus Verhältnissen, die man als gut situiert bezeichnet. Schon deswegen unterscheidet sie sich von ihren Kommiliton*innen. Was sie auch von den Magie praktizierenden Studierenden unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie Geister sieht. Die Grauen, wie ihr Mentor Darlington sie nennt, oder die Stillen, wie Alex sie bezeichnet. Diese Fähigkeit brachte sie nach Yale in das Haus Lethe. Denn Geister können magische Rituale empfindlich stören. So befindet sich Alex neben ihrem normalem Studium in der Ausbildung zur Hüterin, einer Soldatin und Kontrolleurin der Universität. Doch es läuft anders, als vorgesehen.

Ihr Mentor verschwindet und kurz darauf wird die Drogendealerin Tara in der Nähe des Campus ermordet. Was hat die Universität mit diesem Mord zu tun? Wohin ist Darlington verschwunden und wann kommt er zurück? Warum verfolgt Alex der Mitte des 19 Jahrhunderts verstorbene Bräutigam, der damals seine Verlobte ermordet haben soll? Und wie hängt dies alles zusammen? Viele Rätsel, die Detective Turner, Alex und ihre Freundin Dawes in einen Strudel aus elitärem Machtmissbrauch und finsteren, magischen Machenschaften ziehen.

Ein holpriger Einstieg. Aber dann.

 „Das Neunte Haus“ von Leigh Bardugo ist ein Roman, der die Leser*in mitten hineinwirft in eine komplexe, fremdartige Geschichte auf mehreren Handlungsebenen. Da ein erklärender Kontext äußerst sparsam dosiert und scheinbar willkürlich in der Zeit gesprungen wird, ist der Einstieg in das Buch recht holprig. Im Prolog lernen wir die Protagonistin vom Ende der Geschichte im Vorfrühling kennen, die sich mit Bissverletzungen an einen sicheren Ort zurückzog. Wer oder was sie derartig verletzt hat, erfährt man lange nicht. Zwischendurch lesen wir aus einem Regelwerk des Hauses Lethe über die anderen Verbindungen und die Aufgaben der Hüter. Als nächstes begleiten wir die Protagonistin im Winter zu einem bizarren Ritual, das in den Eingeweiden eines lebenden Menschen die kommenden Börsennotierungen vorausagt. Schließlich geschieht der Mord und mit der Protagonistin fragt man sich, was eine junge Erstsemesterin bei den Ermittlungen zu suchen hat. Und bevor die Leser*in mehr darüber erfährt, springt die Handlung zurück in den Herbst zu Alex und Darlington, die sich gerade kennen lernen. Weitere Flashbacks erzählen aus Alex‘ Vergangenheit, bevor sie zur Uni kam und aus Darlingtons Kindheit. Vom Schicksal des Bräutigams, ein wenig vom sonstigen Uni-Alltag und über weitere bizarre Rituale und Gräueltaten.

Düsterer Mix aus Dark-Fantasy und College-Thriller

Bis man die von dunkler Magie durchzogene Universitätswelt und Alex‘ Rolle darin verstanden hat, sind 150 Seiten gelesen, die gefühlt die Haupthandlung kaum voran brachten. Nach und nach ergeben die Puzzleteile allerdings Sinn. Und führen in einen Fantasy-Thriller, der jegliche Abgründe realer und magischer Intrigen und Verbrechen im Dies- und Jenseits auslotet. Ab diesem Punkt entwickelt die Geschichte eine Spannung, der man sich schwer entziehen kann, trotzdem (oder weil?) die beschriebenen Gewaltexzesse nicht gerade leicht zu lesen sind. Nicht nur aufgrund der Diskussion um Rape Culture in der Literatur stellt sich die Frage, ob die Geschichte die dargestellte sexualisierte Gewalt wirklich braucht. Diese Frage lässt sich für „Das Neunte Haus“ eindeutig bejahen. Denn es geht letztendlich um gesellschaftliche Mechanismen, die Grundlage für Gewalt gegen Frauen sind: patriarchische, hierarchische Strukturen, Narzissmus und Sexismus, Manipulation und Machtmissbrauch.

Vom Stereotyp zur Persönlichkeit

Im Mittelpunkt der Handlung stehen zwei Mordfälle und ein Vermisstenfall: die Morde an Tara Hutchins und Daisy Fanning Whitlock, sowie das Verschwinden von Alex‘ Mentor Darlington. Die junge, unerfahrene Hüterin der magischen Aktivitäten ist völlig auf sich allein gestellt. Sie wählt den einzig richtigen Weg, um diesen Mysterien auf den Grund zu gehen: ihren eigenen. Alex entwickelt sich dabei von der klischeehaft skizzierten Antiheldin (Drogenkonsumentin, Schulabbrecherin, Streunerin) zu einer eigenwilligen und mutigen Persönlichkeit mit Rückgrat. Mit Trotz und weil sie sich nicht von den elitären Machenschaften der Universität korrumpieren lässt, gelingt ihr das unmöglich erscheinende. Wenn auch unter heftigen Schmerzen. Im Nachhinein betrachtet hat Leigh Bardugo mit Galaxy Stern eine glaubwürdige Heldin kreiert, die nicht immer sympathisch herüberkommt und nicht immer das richtige tut. Die aber ihre Möglichkeiten zu nutzen lernt, über Grenzen geht und mit eisernem Willen ihr Ziel verfolgt.

Als Gegenentwürfe zur Protagonistin dienen der smarte Detective Turner, ein Farbiger in äußerst korrekter Kleidung, die schlaue Dawes und der Vollblut-Akademiker Darlington. Auch den Nebenfiguren haftet zunächst ein Hauch von Klischee an, doch sie entwickeln sich weit darüber hinaus. Vor allem Darlington hat eine problematische Vergangenheit, die ihn besonders in der Beziehung zu Alex prägt. Und auch die wohl erzogene Dawes hat ihre überraschenden Momente. So überzeugt das Ensemble insgesamt mit lebendigen, starken und glaubwürdigen Figuren.

„Alex hat auf ihre Bedenken bezüglich des Angriffs hingewiesen, und statt ihr bis zum Ende zuzuhören, haben Sie es vorgezogen, ihre Glaubwürdigkeit infrage zu stellen. Sie hatten vielleicht nichts andeuten wollen, aber ihre Absicht war es, sie zum Schweigen zu bringen, also ist es nicht schwer, auf die Idee zu kommen, dass das hier nach Täter Opfer Umkehrung stinkt. Das ist das semantische Äquivalent der Aussage: Ihr Rock war zu kurz.“ [S. 227]

Prägnant und dynamisch erzählt

Leigh Bardugo schreibt einen lebendigen, perfekt auf den jeweiligen Erzähler abgestimmten Stil. So erzählt Alex in einem umgangssprachlichen Stil, kompromisslos direkt und mit der passenden Prise Dreck. Besonders die Dialoge sind bisweilen bissig und auf den Punkt formuliert. Darlington bedient sich dagegen einer eher gebildeten Mundart, die aufgrund des gelegentlich aufblitzenden Sarkasmus nicht versnobt wirkt. Diesen Mix an Sprachstilen hat die Übersetzerin Michelle Gyo stilecht in die deutsche Sprache übertragen. Und so ist er einerseits geeignet, um Spannungsmomente aufzubauen und eine gruselige Atmosphäre zu erschaffen. Andererseits sorgt schwarzer Humor für Abwechslung im überwiegend düsteren und melancholischen Ambiente.

Nach dem chaotischen Einstieg ist „Das Neunte Haus“ der spannendste Roman, den ich bisher in diesem Jahr gelesen habe. Die Gewaltszenen sind selbst für erfahrene Leser*innen heftig und sicherlich nicht in jeder Gemütslage zu ertragen. Trotzdem dienen sie der Geschichte und wirken nicht wie inszenierte Schockmomente. Die ein oder andere Attacke aus dem Schattenreich wäre vielleicht entbehrlich gewesen. Hier wurde der Protagonistin ein wenig zu sehr die Rolle der Leidtragenden auferlegt.

Summa summarum ergibt sich am Ende jedoch ein einleuchtendes Gesamtbild mit einer gänzlich unerwarteten, aber logischen Auflösung. Als sich des Rätsels Lösung in der Endphase andeutet, hält die Autorin weitere radikale Wendungen und einen spektakulären Ausblick in der Hinterhand.

Eva Bergschneider

Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Gewalt, Cybermobbing

Das Neunte Haus
Leigh Bardugo (Übersetzung Michelle Gyo)
Fantasy (Dark Fantasy)
Knaur Verlag
Februar 2020
521
Keith Hayes /Guter Punkt

Funtastik-Faktor: 84

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