Stargazer -Das letzte Artefakt – Ivan Ertlov

Stargazer-Das letzte Artefakt (Band 1 After Terra-Reihe) Ivan Ertlov © Ivan Ertlov
Stargazer-Das letzte Artefakt © Ivan Ertlov

SF-Abenteuer mit Action, Charme und Herz

Hier ist sie also, die erste angebliche Space Opera aus der Feder Ertlovs. Seit langem angekündigt, immer wieder mit kurzen Schnipseln geteased und für Selfpublisher-Verhältnisse massiv beworben. Ich schreibe ‚angebliche Space Opera‘, weil es meiner Meinung nach doch eher Abenteuer-SF ist. Wenn auch in einem großen Space Opera Setting eingebettet. Und das mit dem Selfpublishing ist dann der zweite sanfte Etikettenschwindel: Nur das eBook kommt von Ertlov selbst verlegt heraus und ist bereits erhältlich. Das Taschenbuch wird jedoch im Belle Epoque Verlag am 14. April 2021erscheinen.

Hurra, die Menschheit ist ausgelöscht!

Eine Zukunft, in der es keine Erde, keine Menschheit mehr gibt? Und das Ganze noch als „Happy End“ eines Jahrtausende zurückliegenden Krieges präsentiert? Der einzelne Homo Sapiens als rechtlich streng reguliertes Individuum einer Spezies, die der größte Albtraum aller anderen Völker ist?

Das erinnert zumindest in Nuancen an „The Last Human“ von Zack Jordan, auch wenn es bei Ertlov doch noch einige Millionen Menschen in der Galaxie verteilt gibt. Und wo Jordan sich nach einem starken Anfang in immer techno-esoterisch und fahriger werdenden Ausschweifungen verliert, ist „Stargazer“ das Gegenteil: Aus einem leicht verwirrenden Einstieg erwächst immer mehr Logik, Erzähldynamik und Verständnis. Gleichzeitig wird klargestellt, dass die Menschheit als ein ‚Reich‘ gar keine zweite Chance verdient. Zurecht mitsamt ihrem Sonnensystem aus dem All gepustet wurde. Oder, um Sturmkommandant Troshk zu zitieren:
 

»Neun Milliarden Menschen, ausgelöscht in einer einzigen Stunde, von zwölf unserer Rasse, die sich dafür opferten. Es war eine Notwendigkeit, aber keine Ehre, kein Kampf, keine Schlacht. Eine Selbstmordmission, direkt in die Sonne der Menschen, das Ende eines ganzen Systems. Wir schämen uns nicht, weil es der einzige Weg war, um vierzehn andere Völker, vielleicht sogar den gesamten Spiralarm zu retten, aber darüber singen wir keine Lieder. Verstanden?«

Gute Story, Charaktere mit Tiefe, exzellentes Worldbuilding

Ich muss gestehen: Ich war sowohl gehyped und angefixt, als auch reichlich skeptisch. Der Klappentext mit Verweis auf Heavy Metal und seine Fellatioforelle ließ mich zu viel dummen Klamauk und halblustige Schlüpfrigkeiten befürchten. Glücklicherweise war das mehr Marketing, als tatsächlicher Vorgeschmack. Die Vorbilder werden zitiert, aber nicht imitiert. „Stargazer“ entwickelt seinen eigenen, ganz speziellen Stil, der am ehesten noch an „Firefly“ und die „Expanse“ Reihe erinnert. Es gibt reichlich Humor und es gibt die eine oder andere frivole Andeutung und Dialogpassage. Aber alles fügt sich subtil und harmonisch in das Storytelling ein. Die Geschichte hat mehr Tiefe und Komplexität als die üblichen Ivan-Ertlov-Erzählungen, bleibt aber letztendlich eine Origin Story.

Und diese lebt von ihren Charakteren. Astrotelepathin Dilara Kreethan und Chefmechanikerin Bettsy, Sturmkommandant Troshk und natürlich Hauptprotagonist Frank Gazer sind wunderbar ausgearbeitet und wachsen schnell ans Herz. Das Worldbuilding überzeugt mit Sense of Wonder. Sowohl die Splitterstadt, als auch das unfreiwillige Ziel der Heldenreise werden plastisch geschildert, erwachen vorm geistigen Auge zum Leben.

Der als Mensch ewige Außenseiter und Underdog Frank versucht sich selbständig zu machen. Und überredete die beiden ehemaligen Schiffskameraden sowie den Sturmkommandanten, sich ihm anzuschließen. Letzterer ist aus formalen Gründen notwendig. Die Lex Humanitas, jenes Gesetz, unter dem die Ratsvölker den Menschen die Weiterexistenz erlaubten, verbietet es Frank, Waffen zu tragen. Oder auch nur ein Schiff mit Bordwaffen zu kommandieren. Es sei denn, die Verfügungsgewalt über alles, was feuern kann, wird auf einen Nichtmenschen übertragen. Da kommt Troshk, der ehemalige Offizier der Protektoratsinfanterie, gerade recht. Gemeinsam reisen sie mit einem schrottreifen Schiff und einer der begehrten Abbaulizenzen zu einem irrlaufenden Kometen, dessen Rohstoffe sie alle reich machen könnte. Doch erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Erzählerisch überragend…

„Stargazer“ fesselt von der ersten Seite bis zum Vorbestellbutton für den Nachfolger. Der Roman lässt als Unterhaltungsliteratur keine Wünsche offen. Der Humor zündet, ohne abgedroschen oder vulgär zu wirken und die Gefechte und Konflikte sind gewohnt packend inszeniert. Charakterentwicklung wird großgeschrieben und geschickt in die immer rasanter werdende Haupthandlung eingeflochten. Auszüge aus dem Gesetzestext der Lex Humanitas leiten amüsant und erstaunlich tiefsinnig jedes Kapitel ein. Die Nebenhandlung rund um ein Gefecht in der neutralen Zone, das auf den ersten Blick mit unseren Helden gar nichts zu tun hat, ist rundum gelungen. Das Lesen lohnt sich, man wird blendend unterhalten.

… aber nur schaumgebremst progressiv.

Dennoch sollte man Ertlov nicht am Genrestandard messen, sondern an ihm selbst. Und da gibt es sehr wohl Punkte, die er schon einmal besser abhandelte. Im durch das Matriarchat der Besucher stark feministisch geprägten „Onur-Zyklus“ entwickelte er seine eigene, ganz spezielle gendergerechte Sprache. In der zum Beispiel im Plural die höherwertigen Bezeichnungen weiblich und die untergeordneten männlich gesetzt waren. Phrasen wie „Und unsere Offizierinnen und Soldaten“ lasen sich wunderbar flüssig; Aussagen wie „Die Onura bereiteten sich auf die Konferenz vor“ erhielten im Glossar den lakonischen Hinweis „Männchen sind in der verkürzten Form mitgemeint“. Natürlich haben auch in Stargazer viele starke, komplexe weibliche und nichtbinäre Charaktere die inhaltlichen Hosen an. Sprachlich kommt das aber nur eingeschränkt rüber.

Und während es in der „Avatar“-Reihe, den „Klingensänger“-Romanen und auch der „Goliath“- Chronik immer wieder homo-, pan- und asexuelle Figuren mit Identifikationspotential gibt, wirkt die Space Opera mit nur einer offen bisexuellen Protagonistin beinahe schon spießig-bürgerlich. Auch die Sozialkritik versteckt sich subtil in den Gesetzestexten und Einsatzberichten, Reflektionen Franks und lakonischen Dialogen. Kein flammender Apell wie am Ende von „Showdown Beijing“, kein offener Klassenkampf, wie in „Generation 23“. Da war Ertlov schon deutlich bissiger.

Fazit:

Als Space-Opera und Science-Fiction Abenteuer zählt „Stargazer“ zu den Highlights seiner Genres. Eine große Welt wurde aufgebaut, liebevoll ausgearbeitete Charaktere entwickeln sich während der rasanten Geschichte merklich weiter. An die Genialität der „Avatar“-Reihe als Gesamtwerk kommt „Stargazer“ jedoch (noch) nicht heran, dafür fehlt die (sozial-) politische Sprengkraft. Trotzdem gebe ich eine deutliche Lese-Empfehlung.

Danke an Gastredakteurin Tamara Yùshān

Stargazer -Das letzte Artefakt
After Terra, Band 1
Ivan Ertlov
Science Fiction, Space Opera
amazon media (eBook), Belle Epoque (Taschenbuch)
Februar 2021 (eBook), April 2021 (Taschenbuch)
322 (eBook), 380 (Taschenbuch)
MNS Art Studio
83

3 Gedanken zu „Stargazer -Das letzte Artefakt – Ivan Ertlov

  1. Guten Morgen aus dem Busch!

    Zuallererst Danke für die Besprechung, sehr schmeichelnd. Was die mangelnde politische Sprengkraft angeht – ja, da hat Tamara natürlich recht. Hier kommt Stargazer relativ handzahm um die Ecke, was aber auch daran liegt, dass es die klassischen menschlichen politischen Strömungen und Weltanschauungen szenariobedingt nicht mehr gibt. Den Konflikt zwischen Kapitalismus und Gerechtigkeit habe ich eher zwischen den Zeilen versteckt, auch wenn es mit dem Minenkonsortium durchaus einen diesbezüglichen Antagonisten gibt. Dies wird im nächsten band eien viel größere Rolle spielen, ebenso das Thema Rassismus.

    Was die gendergerechte Sprache und andere progressive Faktoren betrifft – ich hatte hier erstmals (übrigens einer Empfehlung Evas aus dem Vorjahr folgend) sensitivity reading eingebunden, und tatsächlich wurden im Kapitel mit den Gahar einige Anpassungen gemacht. Im Rat sind mindestens zwei vollkommen nonbinäre Spezies vertreten, und Frank deutet auf Gahar ja an, dass diese eher die Norm als die Ausnahme sind. Und nein, [SPOILER] ist nicht der / die einzige offen NICHT heteronormative Hauptfigur. Aber da mehr zu verraten, wäre ein Spoiler für die Zukunft.

    1. Hallo Ivan,
      DANKE Dir für Deinen erhellenden Kommentar. Es war sicherlich für Dich sehr spannend ein sensitivity reading machen zu lassen. Ich finde es schon sehr interessant, zu erfahren, dass dies möglicherweise ein etwas weniger an betont gendersensibler Sprache zur Folge hatte. Oder vielmehr eine andere Sprache, als unsere Rezensentin erwartet hätte.Finde ich auf jeden Fall gut, dass Du proaktiv diverse/queere Personen in Deine Romane bringst und jemanden aus der Community zurate ziehst. Lehrreich für Autor*inne und Leser*innen. Viele Grüße in den Busch, Eva

    2. Ich bin fast davon ausgegangen, dass die großen Themen und Konflikte erst in Folgebänden auftauchen werden und dies hier nur die „Entstehungsgeschichte des Teams“ darstellt. Dementsprechend freue ich mich schon auf die Folgebände.
      Und, was ich auch Eva so gesagt habe: Wäre Stargazer das Werk eines anderen, mir unbekannten Autors, hätte ich mich mit der Wertung ziemlich nahe an die magische 100 herangetastet. Denn mir persönlich ist es auch im Jahr 2021 relativ egal, wie divers ein Autor oder eine Autorin seine Geschichten besetzt, und ich wurde schon von Büchern, geschrieben von alten weißen Männern über weiße Männer, die sich gegenseitig im All mit Machosprüchen abknallen, gut unterhalten. Natürlich freue ich mich, wenn asiatische, weibliche, nicht heteronormative Charaktere vorhanden sind, aber für mich ist das keine Pflichtübung. Normalerweise.
      Aber wenn jemand schon einmal so etwas wie die Onura Gesellschaft als großen Gegenentwurf zu fast allem entworfen und mit der Avatar Reihe ein sechsbändiges Plädoyer für Humanismus und soziale Gerechtigkeit geschrieben hat, dann lege ich die Messlatte höher.

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