Auch phantastische Seelen brauchen Hilfe
Ich wünschte ich hätte die Anthologie „Das geheime Sanatorium“, herausgegeben von Nadine Muriel und Rainer Wüst, in meiner psychosomatischen Kur 2019 gelesen. Doch die Geschichten bereichern mich auch gut zwei Jahre nach dieser für mich sehr wichtigen Zeit. Nicht die skurrilen, traurigen und lustigen Ereignisse erinnern mich an meine Kur in Bad Kissingen. Sondern die inspirierenden und erhellenden Gespräche mit Therapeut:innen und Mitpatient:innen und besonders das wertschätzende und stärkende Umfeld. Der Leitsatz „It’s okay not to be okay“ zieht sich als roter Faden durch jede der vierzehn Geschichten und die gesamte Anthologie.
Alle Geschichten auf einen Blick
- Reality Soap – Nadine Muriel
- Grispa – Günther Wirtz
- Das Bild von einem Mann – Nele Sickel
- Der Fall Ernesto Tortuga – Maitre und Kosmonaut – Günther Kienle
- Hämatophobie – Michael Schmidt
- Reality Soap – Nadine Muriel und Effi Clifford Eweka
- Eine geheimnisvolle Patientin – Effi Clifford Eweka
- Femme Fatal – Michael Schmidt
- In der Haut des Todes – Amandara M. Schulzke
- Entemapente – Andreas Flögel
- Der Trickser – Günther Wirtz
- Der Tote in der Salzsteingrotte – Laurence Horn
- Reality Soap – Nadine Muriel, Rainer Wüst
- Post Mortem – Thomas Heidemann
- Die traurige Vampirin – Asmodina Tear
- Humphrey- Thomas Heidemann
- Reality Soap – Nadine Muriel, Rainer Wüst
- Abspann (Essay) – Nadine Muriel
„Reality Soap“ ist die Rahmengeschichte über drei Hexen, die ihre Lieblingsserie „binge watchen“. In Fan-Shirts und mit Iced Amaretto Capucchino streamen sie die lange Sanatoriumsnacht: dreizehn Folgen der TV-Serie „Das geheime Sanatorium“. Dazu gehört ein Gewinnspiel, das einen Besuch im Backstage-Bereich der Produktion in Aussicht stellt. Auch die Leser:innen können bei diesem Gewinnspiel mitmachen und gewinnen Einblicke in die Hintergründe der Anthologie auf dasgeheimesanatorium.wordpress.com
Vor Burnout, Phobien und Identitätskrisen sind auch phantastische Wesen nicht gefeit
Michael Schmidt hat gleich zwei Geschichten zur Anthologie beigesteuert. Sie ergänzen sich auf wunderbare Weise. „Hämatophobie“ erzählt von einem Werwolf, dessen psychosomatische Beschwerden ihn daran hindern, Beute zu reißen. Sein Therapeut Emil Bolze wendet eine ungewöhnliche Therapie an.
In „Femme Fatal“ begegnen wir Thea, die tagsüber ein Geist und nachts eine menschliche Frau ist. Sie sehnt sich danach, nicht länger zwischen zwei Welten wechseln zu müssen. In der Gesprächstherapie mit Bolze stellt sie sich einer unangenehmen Wahrheit.
In beiden Geschichten präsentiert der Autor überraschende Lösungen für das behandelte Problem. Und führt zugleich Beispiele für Funktionsweisen psychotherapeutischer Behandlung an: Konfrontation und Reflektion.
„Das Bild von einem Mann“ ist eine eher heitere Geschichte über Wunschfee Colette mit Burnout und Helfersyndrom. Obwohl sie völlig entkräftet ist, kann sie dem Vampir Wallace den Wunsch nicht abschlagen, ihm ein Spiegelbild zu zaubern. Die Autorin Nele Sickel (siehe auch „Geister der Vergangenheit„) geht hier auf einen anderen Aspekt einer therapeutischen Heilung ein: Dem Miteinander auf Augenhöhe in einer Gruppe Betroffener.
Eine bunte Mischung aus Grusel, Krimi, traurigen und lustigen Geschichten
Eine Geschichte, die manchen Hardcore-Serienkiller Roman in die Tasche steckt, schrieb Günther Kienle mit „Der Fall Ernesto Tortuga – Maitre und Kosmonaut“. Ein Serienkiller, der seine Opfer isst, wird mit chronischen Kopfschmerzen eingeliefert. Die Therapeuten Harris und Lawistan probieren eine Art Rollenspiel mit dem Patienten aus. Mit gänzlich unerwarteten Folgen.
Kienle schmückt seine Geschichte mit detaillierten Gräueltaten aus, die sicherlich eine Triggerwarnung gerechtfertigt hätten. Wer diese nicht scheut, liest eine Story aus der Serienkillerperspektive, die mit einer absolut krassen Wendung endet.
In „Eine geheimnisvolle Patientin“ üben die zwei Damen Han Ghi und Madame Tingh Gah Rache an einem Unschuldigen. Als Heldinnen treten hier zwei Heinzelfrauen auf, die die Autorin Effi Clifford Eweka besonders eindrucksvoll in Szene setzt.
„In der Haut des Todes“ erinnert ein wenig an den Roman „Alles Sense“ von Terry Pratchett, in dem TOD unfreiwillig in Frühpension geschickt wird. Amandaras Geschichte entwickelt allerdings ihren ganz eigenen Charme und Humor. Ihr Gevatter Tod leidet infolge der Corona-Toten an Überarbeitung und möchte sich ein wenig am See ausruhen. Zu dumm, dass er sich ausgerechnet einen FKK-Strand ausgesucht hat. Weil Gevatter Tod sich weigert, seine Kutte auszuziehen, nimmt das Verhängnis seinen Lauf.
Der Beitrag von Amandara M. Schulzke ist sicherlich der witzigste, herrlich schräg geschrieben und mit skurrilen Figuren. „In der Haut des Todes“ überrascht außerdem mit einer berührenden Wendung und einem runden Finale.
Wie der Titel der Geschichte schon andeutet, prägt „Die traurige Vampirin“ von Asmodina Tear eine melancholische Atmosphäre. Ein Vampir übergibt Faktotum Boris eine Frau, die dieser in eine Vampirin verwandelt hat. Allerdings ist er mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Sie weigert sich Menschenblut zu trinken. Das Sanatorium soll diesen Makel beheben.
Diese Geschichte greift die Themen Gewalt an Frauen und Mut zum anders sein auf. Eine hübsche Liebesgeschichte sorgt für ein wenig tröstliche und positive Stimmung.
Meine Favoriten
Fast alle Geschichten haben mir gut gefallen und Spaß gemacht, zu lesen. Herausragend fand ich jedoch „Der Trickser“ von Günther Wirtz und „Post Mortem“ von Thomas Heidemann.
„Der Trickser“ und Gestaltwandler Cral beschreibt sich als seelisch krank und weist sich in das Sanatorium ein. Doch in Wahrheit will er ein Verbrechen begehen. Der Trick mit dem Emil Bolze den Gauner überführt, ist so spektakulär wie gewitzt. Dazu begeisterten mich die Dialoge mit dem lebensmüden Phönix und der lispelnden Nixe. Einfach großartig.
In „Post Mortem“ steht Irina Paschkowa im Mittelpunkt. Mit ihren unangemessenen Ansprüchen und ihrer Respektlosigkeit geht sie allen auf den Keks. Die Humanmedizinerin Sadhana Prasad stellt zweifelsfrei ihren Tod fest, muss ihre Diagnose jedoch kurze Zeit später revidieren. Irina wacht wieder auf und weigert sich, ihre neue Existenz zu akzeptieren.
Die Geschichte las sich wie eine Hommage an die Menschlichkeit. Obwohl Irina eine sehr nervige Patientin ist, tun Sadhana Prasad und Emil Bolze alles in ihrer Macht Stehende, um sie behutsam an ihr neues Leben zu gewöhnen. Dr. Prasad ist eine neu eingeführte Figur und wird mit der Besonderheit des Sanatoriums konfrontiert. Ihre fürsorgliche und zugleich selbstbewusst schlagfertige Art machen sie schnell zur Sympathieträgerin.
Lediglich zwei Geschichten fallen qualitativ etwas ab. „Entemapente“ von Andreas Flögel ist eine Story um eine Monsterjagd, geschrieben aus der Perspektive zweier Protagonisten. Der Plot zieht sich seltsam lang und liefert wenig Überraschendes. Der Krimi „Der Tote in der Salzsteingrotte“ von Laurence Horn führt so viele Protagonist:innen ein, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Zudem geht die Handlung in der Fülle von Akteuren unter.
Ein Bonus zum Schluss
Zum guten Schluss schrieb Nadine Muriel mit „Abspann“ einen Essay über das Anderssein im kulturellen Kontext unterschiedlicher Gesellschaften. Sie verdeutlicht hier sehr eindrucksvoll, dass es so etwas wie eine allgemeingültige Normalität nicht gibt. Sondern das die Klassifizierung des „Normalen“ stets von der Lebenskultur, dem Zeitgeist, ja von prägnanten Ereignissen abhängig ist.
»Noch wenige Monate davor hätte ich eine Person, die aus Sorge vor Infektionen andere Menschen meidet, sich mit einer Gesichtsmaske schützt und beim Bahnfahren regelmäßig die Hände desinfiziert, als nosophoben Hypochonder abgetan. Jetzt zeugen diese Verhaltensweisen von einem besonnenen Umgang mit der neuen Situation. Ein Beharren auf gewohnten Lebensabläufen – dem Masernurlaub am Ballermann, der Megaparty am Baggersee, – hingegen ist zu einem Indiz für realitätsfremden, egozentrischen Starrsinn geworden.« [S. 258]
In der Phantastischen Literatur folgen diese Einschätzungen anderen Voraussetzungen, eben jenen der Phantastischen Welt. Und ermöglichen so weitere Perspektiven und einen offeneren Blick. Die Prämisse „It’s okay not to be okay“ eint alle Geschichten über das geheime Sanatorium. Es war den Herausgebenden wichtig, Psychotherapie und jene, die sie in Anspruch nehmen, mit Wertschätzung und Mitgefühl zu betrachten, anstatt zu dramatisieren und problematisieren. Gerade dieser Aspekt ist perfekt gelungen und macht diese Anthologie zu einem besonderen und nachhaltigen Lesegenuss.
Eva Bergschneider
Triggerwarnung: Gewalt, Tod, psychische Erkrankungen, Verstümmelung, Kannibalismus
Fantasy (Horror)
Lindwurm Verlag
August 2021
Buch
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Markus Weber, Guter Punkt
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