Die Spiegel sind mehr, als sie scheinen
„Manche Orte lassen einen nicht los. Fairwater ist ein solcher Ort“
schreibt Oliver Plaschka im Vorwort zu der überarbeiteten Neuausgabe von “Fairwater oder Die Spiegel des Herrn Bartholomew“. Der Autor erzählt uns darin, wie es zur Neuveröffentlichung seines Erstlings kam, das 2008 den Deutschen Phantastikpreis in der Kategorie ‚Bestes Romandebut‘ gewann. Das ursprünglich bei Feder & Schwert erschienene Buch ist nun vom Knaur Verlag relauncht worden. Nach eigener Aussage sah Oliver Plaschka bei der Überarbeitung „fragwürdige Formulierungen, eine Flut von Füllwörtern und verschlüsselte autobiographische Bezüge.“ Nun hat er die Geschichten um „Fairwater“ noch einmal erzählt. Inhaltlich sind es dieselben wie 2007, jedoch auf zusammenhängendere Art dargestellt. Wie gut das gelungen ist, müssen jene beurteilen, die beide Ausgaben gelesen haben. Ich beziehe mich hier ausschließlich auf die Neufassung. Für mich war „Fairwater“ immer ein Buch, das ich unbedingt einmal lesen wollte und mit der erneuten Veröffentlichung drängte sich diese Chance nahezu auf.
In sieben Episoden zu den Geheimnissen Fairwaters
Im ersten Kapitel „Die Fairwater-Affäre“ begleiten wir Gloria, die Fairwater anlässlich einer Beerdigung besucht. Sie hat als Jugendliche ein Jahr in Fairwater gelebt und sich in Marvin verknallt, der nun beerdigt wird. Man geht von Selbstmord aus, doch seine Leiche wurde nie gefunden. Gloria ist Reporterin und Neugier gehört zu ihren vorstechensten Eigenschaften. Neben Marvins mysteriösem Verschwinden stößt sie schnell auf weitere Ungereimtheiten, die sich durch viele Jahre der Stadtgeschichte wie ein roter Faden ziehen. Störfälle im hiesigen Atomkraftwerk, die niemand aufklärt, eine seltsame Sekte, die Außerirdische ankündigt. Selbstmorde und Nervenzusammenbrüche, ein Mädchen, das jahrelang im Koma liegt, und schließlich eine bizarre Mordserie. Gloria erhält Unterstützung vom Taxifahrer Jerry und dessen Vater Salomon, dem Chronisten. Doch schon bald verfolgen sie dunkle Gestalten, die sie selbst „Dreibuchstabenmänner“ nennt. Und die wollen sie mit allen Mitteln von weiteren Nachforschungen abhalten.
Sechs weitere Episoden erzählen unter anderem von Lucia („Lucias Spiegel“), die sich um die im Koma liegende Stella kümmert und einen Spiegel kauft. In „Marvins Wahn“ begegnen wir Glorias Liebe Marvin und seinen unsichtbaren Begleitern, Marvins Liebe Alice, seinen Freunden und seinem Therapeuten.
In „Das Silberschiff“ findet ein namenloser Mann im Nachlass seines Freundes ein Tagebuch, in dem er von einem überaus seltsamen Fund erzählt. Wir lernen Herrn Andersen in „Herr Andersens wundersame Gabe“ kennen, dessen Geigenspiel eine zauberhafte Wirkung hat. Der sich und seine angebliche Schwester Mary jedoch nicht vor einem Unglück bewahren kann. „Die Prinzessin von Shedir“ kehrt nach Fairwater zurück und sammelt ihren Hofstaat. Und schließlich erzählt „Lysander“ seine bewegende Geschichte. Er hat vielleicht am ärgsten unter den Geheimnissen Fairwaters zu leiden.
Ein ausführliches Personenverzeichnis stellt alle Protagonisten vor, die in ein oder mehreren Kapiteln eine mehr oder minder zentrale Rolle spielen.
Ein Episodenroman über Spiegelbilder, Träume und Anderswelten
Auf den ersten Blick haben die sieben Episoden nicht mehr gemeinsam, als den Handlungsort „Fairwater“, einige wiederkehrende Motive und Protagonisten. Sie ereignen sich im Handlungszeitraum 1937 bis 1996. Die Kapitel „Herr Andersen“ und „Lysander“ decken einen Zeitraum von über 30 Jahren ab, „Das Silberschiff“ zwei Jahre, alle anderen Stories ereignen sich innerhalb eines Jahres. Einer Chronologie folgen sie nicht, sondern bewegen sich zunächst in der Zeit zurück, und dann auf 1996 zu. Allein anhand dieser Romanstruktur wird schnell klar, dass „Fairwater“ kein Easy Reading bietet. Wer eine stringent aufgebaute Handlung und einen klassischen Spannungsbogen oder Plot erwartet, sollte den Roman lieber in der Buchhandlung lassen. Wer jedoch gern querdenkt und liest, wer fantasievolle Bilder und surreale Träume auf sich wirken lässt, keinen Aha-Effekt oder eine adäquate Auflösung erwartet, der liegt mit „Fairwater“ genau richtig.
„Fairwater“ vereinigt verschiedene Spielarten der Phantastischen Literatur zu einem komplexen Kunstwerk, einem Triptychon ähnlich. Horror, Märchen und Mystery reichen sich die Hand und bilden Puzzleteile zu einem Roman, der sich jeglicher Kategorisierung entzieht. Der nicht nur die Grenzen zwischen Realität, Traum und Anderswelt verwischt, sondern auch die zwischen Gegenwart, Vergangenheit und dem Jenseits der Zeitrechnung. Die Zeit läuft rückwärts, bis wir zu dem Punkt gelangen, an dem die Mysterien in „Fairwater“ ihren Anfang nahmen. Dabei begleitet der Leser einzigartig skurrile Protagonisten über die Grenzen Fairwaters in eine jenseitige Realität. In Geschichten voller psychischer Abgründe und Widersprüche, aber auch einzigartiger Dramatik und erzählerischer Kraft.
Das klingt vielleicht, als sei „Fairwater“ ein esoterisches Kunstbuch, so unterhaltsam und verständlich wie ein Fachbuch der Philosophie. Zugegeben, es fordert den Leser, ähnlich wie zum Beispiel „Die drei Sonnen“ von Cixin Liu mit seinen naturwissenschaftlichen Details. Der übergeordnete Rahmen der Erzählung in „Fairwater“ liegt lange im Verborgenen. Doch der Weg ist hier das Ziel und lohnt die erforderliche kreative Denke.
Bisher unentdeckte sprachliche Farbtupfer
Über Oliver Plaschkas besonderen Sprachstil habe ich schon so oft geschrieben (siehe „Das Licht hinter den Wolken“, „Die Magier von Montparnasse“ oder „Marco Polo“). Und dennoch sind in „Fairwater“ bisher unentdeckte geniale Stilelemente dabei. Kleinigkeiten nur, die umso mehr Wirkung zeigen und die sinnerweiternde Charakteristik des Romans unterstreichen. Zum Beispiel Formulierungen, die mit der Erwartungshaltung des Lesers spielen, wie
„Er trug ein Black-Sabbath-Shirt und sah alles in allem ziemlich mitgenommen aus. Ein Fels in der Brandung.“ [S.55]
Oder Wortspiele, die die Bedeutung eines Begriffs hinterfragen:
„Wir schaffen es nie, Lust auf denselben Zeitvertreib zu haben, ist Dir das schon mal aufgefallen? Ich mag meine Zeit, besonders die mit Dir. Ich will sie gar nicht vertreiben. [S. 415]
In „Fairwater“ zeigt der Autor nicht nur im Sprachstil, das ein Lyriker in ihm steckt. Lysanders melancholische Gedichte erzählen ihre eigenen Geschichten und sind schillernde Facetten des Gesamtbilds. „Fairwater“ ist voller Reverenzen an große Autoren und Werke, unter anderem T.H. White, J.R.R Tolkien und Patrick Süskind. Die Musiktexte von Genesis und Pink Floyd tragen zur Retro-Atmosphäre bei. Im Quellennachweis am Ende des Buchs darf man nachvollziehen, aus welchen Songs sie stammen. Im „Versuch einer Chronik“ finden wir den chronologischen Ablauf jener Ereignisse, die für Geschichten und Erzählrahmen eine wichtige Rolle spielen. Wer diesen beim Lesen vermisst, mag zwischendurch hier schauen und die Geschehnisse in der Zeitachse ordnen. Mein Tipp an alle zukünftigen Leser des Buchs lautet allerdings: Macht Euch beim Lesen nicht zu viele Gedanken über den „großen Plan“ dahinter. Genießt das Seltsame, Schräge und Abgründige, an dem Euch die Figuren teilhaben lassen. Und spekuliert anschließend in Gedanken und Fantasien über das Woher und Wohin.
Eva Bergschneider
Horror
Knaur Verlag
April 2018
480
Funtastik-Faktor: 85
Hallo,
normalerweise stehe ich Episodenromanen eher skeptisch gegenüber (wahrscheinlich, weil ich auch kein großer Freund von Kurzgeschichten bin, abgesehen von Sherlock und Cthulhu), aber das hier spricht mich sehr an! 🙂 Schöne Rezension!
Ich habe diesen Beitrag HIER für meine Kreuzfahrt durchs Meer der Buchblogs verlinkt.
LG,
Mikka
DANKE Dir! 🙂 Das freut mich wirklich sehr.